426. Bremer Montagsdemo
am 10. 06. 2013  I◄◄  ►►I

 

Jobcenter klagen gegen sittenwidrige Niedriglöhne von 1,32 Euro

Elisabeth Graf1. Die Arbeitsagenturen nutzen im Zuge der Ver­fol­gungs­betreuung auch das Internet, um ihre (beschönigt:) „Kunden“ besser ausleuchten zu können. Der Sprecher des „Erwerbslosenforums“, Martin Behrsing, bestätigte dies und berichtete von ihm bekannten Fällen, in denen „sogar Arbeitslose von Sachbearbeitern aufgefordert wurden, bei uns im Online-Forum eingestellte Dokumente wieder zu entfernen“. Einige Erwerbslose veröffentlichten in ihrer Empörung über falsche Bescheide vom Amt diese auf der Website, um wenigstens dort die ihnen zustehende Unterstützung zu bekommen.

Auf diese Weise seien ihnen die Flop-, Mob- oder (No-)Job-Center auf die Spur gekommen. Weil die Administratoren des Forums erkennen können, von welchen Servern der Zugriff erfolgt, wissen sie ihrerseits, dass die Arbeitsagenturen sehr häufige Besucher ihrer Website sind. Eigentlich sollte erwartet werden dürfen, dass besagte „Kunden“ gut beraten werden und korrekte Bescheide eine Selbstverständlichkeit sein müssten!

Uneigentlich sind leider allzu oft die Sachbearbeiter nicht entsprechend ausgebildet oder haben sogar noch die inoffizielle Order, Gelder einzusparen. Das geht natürlich mit falschen Bescheiden zu Ungunsten der Transferleistungsbezieher ganz wunderbar, weil viele Probanden dies nicht erkennen beziehungsweise sich nicht zu wehren trauen. Meiner Meinung nach sollten die Arbeitsagenturen eher Asche auf ihr Haupt streuen, als Erwerbslose damit zu tangieren, ihre eingestellten Dokumente wieder aus dem Netz zu entfernen!

 

2. Die „Internationale Arbeitsorganisation“ der Uno (ILO) kommt zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaftskrise in Europa die Gefahr sozialer Unruhen erhöhe. Auch habe vor allem die harte Sparpolitik in vielen Ländern die Lage verschlimmert. Während die Arbeitslosenquote in vielen Industriestaaten deutlich gestiegen sei, gehöre Deutschland zu den wenigen Ländern, in denen die Beschäftigungsrate höher sei als vor der Finanzkrise. Die ILO warnt davor, dass sich weltweit die Zahl der Menschen ohne Job von jetzt 200 Millionen bis 2015 um acht Millionen erhöhen würde. Das Risiko sozialer Unruhen sei in 46 von 71 untersuchten Volkswirtschaften gewachsen.

ILO-Generaldirektor Guy Ryder sagte, dass wir einen auf Jobs und produktive Investitionen fokussierten globalen Aufschwung sowie besseren sozialen Schutz für die ärmsten und verwundbarsten Gruppen brauchen und gegen die soziale Ungleichheit vorgehen müssen, die in vielen Teilen der Welt größer wird. Maßgeblich schuld sei laut ILO die teils dramatische Sparpolitik, die nur allzu häufig zu steigender Arbeitslosigkeit führte. Rezession und Arbeitslosigkeit in Rekordhöhe von zwölf Prozent und zugleich das immer weitere Auseinanderklaffen der Einkommensschere führten zu einem fragilen Umfeld, in dem immer weniger Menschen Möglichkeiten sehen, einen guten Job zu bekommen und ihren Lebensstandard zu verbessern.

Während die Unruhegefahr in Zypern, Tschechien, Griechenland, Italien, Portugal, Slowenien und Spanien zugenommen habe, gehöre Deutschland zu den Ländern mit deutlich gesunkenem Unruherisiko. Überhaupt bekomme die Bundesrepublik im Wahljahr 2013 von der Uno-Sonderorganisation lauter „Traumnoten“: Die Beschäftigungsrate sei auf 57,1 Prozent Ende 2012 gestiegen, mehr als zwei Millionen neue „Jobs“ seien geschaffen worden, es gebe eine der geringsten Arbeitslosenraten in der EU. Nur die Defizite hinsichtlich der Qualität der Jobs werden bemängelt: Dumpinglöhne und Zeitarbeitsplätze seien nicht weiter zurückgegangen.

Nirgendwo ist zu lesen, dass die vielen schlecht bezahlten Jobs durch das Zerschlagen von sozialversicherungspflichtigen Arbeitstellen zustande gekommen sind, worauf wirklich niemand auch nur annähernd stolz sein kann! Wer hat denn etwas von einem „Job“, wenn eigentlich eine richtige Arbeitsstelle gesucht wird, von der es sich ohne Aufstockung und den Büttel bei der Verfolgungsbetreuung leben und nicht nur vegetieren lässt? In meinen Augen glänzt Deutschland mit seinen Taschenspielertricks, dem So-tun-als-ob. Wird in anderen Ländern auch so dermaßen an der Schraube der Arbeitsmarktstatistik gedreht, werden dort auch so viele spezielle Gruppen einfach gar nicht mehr mitgezählt, um dann so zu tun, als gebe es sie nicht? Praktischerweise eignen sich die vielen Erwerbslosen ganz hervorragend zum Drücken von Löhnen und Gehältern, zum Abbau der Sozialleistungen und zur Flexibilisierung der Arbeitszeit!

 

3. Wer hätte das gedacht: Jetzt klagen in Ostdeutschland sogar schon die Jobcenter gegen sittenwidrige Niedriglöhne! Es begann mit dem Besitzer einer Pizzeria in Stralsund, der einer Kellnerin, zwei Küchenhelfern und zwei Pizzaboten Stundenlöhne von minimal 1,32 Euro zahlte – bis das Jobcenter den sparsamen Arbeitgeber verklagte und vor dem Arbeitsgericht Recht bekam. Der Mann muss nun der Behörde 6.600 Euro erstatten, weil sie seinen Beschäftigten wegen der niedrigen Vergütung ergänzend staatliche Grundsicherung, also Hartz IV, überwiesen hatte.

Dabei dürfen wir jetzt nicht so tun, als ob eine angebliche Grundsicherung die Basis für ein normales Leben sichert und derartig wenig Lohn überhaupt als Arbeitlohn gerechtfertigt sein kann, auch wenn er damit nicht mehr sittenwidrig gering ist. Schließlich wollen wir arbeiten, um davon leben zu können, und nicht leben, um zu arbeiten! Leider gilt eine Bezahlung erst dann als sittenwidrig, wenn sie nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlten Lohns erreicht. In den neuen Bundesländern verdiente 2011 jeder vierte Beschäftigte weniger als 8,50 Euro brutto.

Nach einer Studie des „Instituts für Arbeit und Qualifikation“ gibt es in Deutschland etwa vier Millionen Menschen, die weniger als sieben Euro brutto die Stunde verdienen, trotz Arbeit von morgens bis abends nur auf einen Nettolohn unterhalb des Existenzminimums kommen und daher zusätzlich die sogenannte Grundsicherung (Hartz IV) von der Bundesagentur für Arbeit beziehen könnten. Entweder wissen viele nicht von dieser Möglichkeit oder wollen sie wegen des vonseiten der Behörden gepflegten Umgangstons nicht wahrnehmen. Es gilt jetzt auch nicht, die ach so hohen Zuschüsse zu bejammern, die Hartz-IV-Bezieher bekommen, sofern sie diese beantragen, sondern endlich mal anständige Löhne zu fordern, von denen es sich anständig leben lässt, sodass zum Beispiel nicht jede Reparatur einer Waschmaschine einer finanziellen Katastrophe gleichkommt!

 

4. Am 1. April trat in Großbritannien die „Bedroom Tax“ als Teil eines 2012 von der konservativen Regierung unter David Cameron beschlossenen Gesetzes in Kraft. Es vereinheitlicht staatliche Sozialleistungen in einer Zahlung, genannt Single Credit. Für die Single Credits ist eine Höchstgrenze von 350 Pfund pro Woche und Person festgelegt, Familien bekommen höchstens 500 Pfund pro Woche. Die „Bedroom Tax“ ist eine Strafe für Haushalte, die in Sozialwohnungen leben und angeblich „zu viele Zimmer“ haben.

Wenn der Staat befindet, dass zu wenig Menschen in zu großen Sozialwohnungen leben, wird Geld vom Single Credit abgezogen: bei einem Zimmer „zu viel“ 14 Prozent, ab zwei Zimmern 25 Prozent. Leider wird nichts darüber verlautbart, ob es überhaupt eine genügende Zahl kleiner Wohnungen gibt, in die betroffene Menschen ziehen könnten! Stephanie Bottrill hatte ein Zimmer „zu viel“ in der Wohnung und verlor 20 Pfund pro Woche, 80 Pfund im Monat. Obwohl sie wegen einer Autoimmunkrankheit berufsunfähig war, wurde ihre Krankheit nicht anerkannt; sie erhielt also auch keine Berufsunfähigkeitsbeihilfe. Weil sie nicht genügend Geld hatte, um ihre Wohnung zu heizen, ernährte sich von Vanillesoße aus Dosen.

Zu ihren Nachbarn soll sie gesagt haben: „Ich kann es mir nicht mehr leisten zu leben“. Die 53-Jährige sprang am 4. Mai 2013 von einer Autobahnbrücke, weil sie nicht wusste, wie sie die sogenannte Bedroom Tax bezahlen sollte. In einem Abschiedsbrief an ihre Kinder schrieb Stephanie Bottrill: „Gebt nicht euch die Schuld dafür, dass ich mein Leben beendet habe. Die einzigen Schuldigen sitzen in der Regierung.“ In ganz Großbritannien stehen Menschen gegen die „Bedroom Tax“ auf, beteiligen sich Zehntausende an lokalen und regionalen Demonstrationen. Die Socialist Party forderte die Stadträte dazu auf, Kürzungen und die „Bedroom Tax“ nicht umzusetzen.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
„Fuck for Forest“: Ökoaktivist(inn)en wollen mit befreiter Sexualität
den Regenwald retten („Tageszeitung“)

 

Solidarität mit der Volkserhebung
in der Türkei

Harald BraunViele Menschen sind mit ihrem Herzen bei den kämpfenden Menschen in der Türkei. Auch wir bewundern ihren Mut und ihre Stärke. Auslöser für die Volkserhebung war der Widerstand einer Gruppe von Umweltaktivist(inn)en im Gezi-Park. Dieser Park ist die einzige kostenlose grüne Oase im Zentrum von Istanbul. Dort sollen ein riesiges Einkaufszentrum und teure Luxuswohnungen entstehen. Tausende haben am 30.Mai die Arbeitsmaschinen gestoppt, die unter dem Schutz der Polizei 600 Bäume fällen sollten.

Der lokale Widerstand der Bevölkerung gegen die Zerstörung ihres Lebensumfelds konnte auch durch brutale Polizeiangriffe und massiven Trän­en­gas­ein­satz nicht gebrochen werden. Aus dem Funken des Widerstands wurde ein Flächenbrand gegen das diktatorische Regime unter Recep Tayyip Erdogan. Die über Jahre angestaute Unzufriedenheit kommt jetzt in einer landesweiten Rebellion zum Ausbruch. Viele Menschen haben eine Rechnung mit der reaktionär-islamistischen Regierung offen:

Der breite Widerstand lässt sich auch durch den Staatsterror nicht einschüchtern und niederknüppeln. Inzwischen gibt es weit mehr als 1.500 Verhaftungen, mehr als 2.000 Verletzte und mehrere Tote. Präsident Erdogan hält an seinem harten Kurs fest und beschimpft die Demonstranten, die angeblich „Arm in Arm mit Terroristen“ marschierten. Ist die Türkei zu einem Land mit Millionen Terroristen geworden?

Der Gipfel der Heuchelei ist es, wenn die Merkel-Regierung sich „besorgt“ zeigt und nach „Mäßigung“ ruft. Die türkische Regierung wurde jahrzehntelang mit Polizei- und Militärhilfe ausgestattet. Wir erinnern uns auch daran, wie demokratische Rechte hier in Deutschland mit Füßen getreten werden, zum Beispiel beim massiven Polizeieinsatz gegen die Gegner von „Stuttgart 21“ oder zuletzt beim „Frankfurter Kessel“ gegen die „Blockupy“-Demonstration am 1. Juni.

Die Montagsdemo Bremen schickt ihre herzliche Solidarität an das Volk in der Türkei. Wir unterstützen eure Forderungen nach sofortigem Stopp der Polizeigewalt, nach Freilassung aller Gefangenen, nach Bestrafung der Verantwortlichen für den Staatsterror und nach demokratischen Rechten und Freiheiten! Haltet fest an eurem Kampf für den Rücktritt der reaktionären Erdogan-Regierung und der Perspektive einer fortschrittlichen Gesellschaft! Taksim ist überall! Hoch lebe die internationale Solidarität!

Harald Braun
 
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz