567. Bremer Montagsdemo
am 02. 05. 2016  I◄◄  ►►I

 

Trotz Haushaltsüberschuss die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit Lohnverlust abspeisen?

Elisabeth Graf1. Unsere Regierung scheint uns weismachen zu wollen, ein späterer Rentenbeginn könne als Lösung für die unter Druck stehende Alterssicherung taugen. Die „Linken“-Abgeordnete Sabine Zimmermann missbilligt, dass dabei mehr als jede(r) Fünfte ein Rentenalter von 70 Jahre heute nicht erreichen, also noch vor dem verdienten Ruhestand sterben würde. Viele andere, also gerade Menschen mit niedrigen Einkommen, würden den Ruhestand nicht lange genießen können: Absolut jede Erhöhung des Renteneintrittsalters bringe ganz besonders Geringverdienende um die Früchte ihrer Arbeit. Zimmermann kritisierte, dass schon heute ein Arbeiten in Vollzeit bis zum Renteneintrittsalte für die meisten nicht möglich sei.

Daher bräuchten wir Arbeit für Übersechzigjährige und keinesfalls eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. 2014 habe die Erwerbstätigenquote bei den 60- bis 65-Jährigen bei 52,3 Prozent gelegen – im Gegensatz zu 76,9 Prozent bei den 55- bis 60-Jährigen. Wird hier ein „sozialverträgliches Frühableben“ der Geringverdiener einkalkuliert, damit Besserverdienende und verbeamtete Lehrer(innen), Parlamentarier(innen) und andere derart Privilegierte, die nie in die Rentenkasse eingezahlt haben, noch besser und glücklicher, zufriedener vom Brutto-fast-gleich-Netto-Verdienst im Ruhestand ein hohes Alter erreichen und genießen können?

 

2. Wenn ich in der Zeitung lese, Andrea Nahles plane, noch in dieser Legislaturperiode eine große Rentenreform auf den Weg zu bringen, um Altersarmut zu vermeiden, dann kann ich nur Schlimmes ahnen: Sie wolle, dass das Sicherungsniveau auf heutigem Stand bleibt, was aber nur möglich sei, wenn alle „drei Säulen“ – also gesetzliche Rentenversicherung, Betriebsrente und Riester-Rente – „neu justiert“ würden. Wer ein Leben lang Vollzeit gearbeitet habe, müsse im Alter mehr als Grundsicherung erhalten. Daher solle ein Abstand zur Grundsicherung geschaffen werden.

Damit wohlhabende Ehepartner von dieser staatlichen Leistung nicht profitieren können, will Nahles eine „Partner-Prüfung“ einführen: Weil sich aus dem Rentenbescheid nicht ablesen lasse, ob jemand allein von einer kleinen Rente leben müsse oder ob diese nur eine Ergänzung des guten Partnereinkommens sei, sollen Partnereinkommen bei der Lebensleistungsrente berücksichtigt werden. Dies sei – man höre und staune – wichtig für die „Gerechtigkeit“. Sie möchte auch kleinen und mittleren Unternehmen eine Chance geben, Betriebsrenten aufzubauen, außerdem „Solo- Selbständige“ in die gesetzliche Altersvorsorge eingliedern, entweder in die Rentenversicherung oder in ein eigenständiges Versorgungswerk. Hier gehe es immerhin um zwei Millionen Geringverdiener, die nicht allein fürs Alter vorsorgen könnten.

 

3. Mit Warnstreiks an Flughäfen, aber auch bei der Müllabfuhr oder in Kitas hat die Dienstleistungsgewerkschaft „Verdi“ den Druck im Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen erhöht. Wegen der Arbeitsniederlegungen fielen mehr als 1.000 Flüge aus, vor allem an den großen deutschen Flughäfen in München und Frankfurt am Main. Als eine absolute Frechheit empfanden viele von uns das von Bund und „Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände“ in der zweiten Verhandlungsrunde unterbreitete „Angebot“, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit einem Lohnverlust abspeisen zu wollen, statt uns gar mit der viel propagierten „Wertschätzung“ zu begegnen.

Ihre Vorstellung von einer „Lohnerhöhung“ belief sich auf lachhafte 0,6 Prozent in diesem Jahr und 1,2 Prozent im nächsten. Vor dem Hintergrund, dass die öffentlichen Haushalte mit fast 30 Milliarden Euro einen noch nie dagewesenen Überschuss verbuchen konnten, kam dies einer Beleidigung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gleich. Damit der Abstand gegenüber der Lohnentwicklung in der Privatwirtschaft nicht noch weiter wächst und die öffentlichen Arbeitgeber zunehmend an Attraktivität verlieren, forderten wir sechs Prozent mehr Gehalt, 100 Euro mehr Vergütung für Auszubildende und Praktikant(inn)en, unbefristete Übernahme der Auszubildenden nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung und riefen für den 26. April 2016 alle TVöD-Tarifbeschäftigten ganztägig zum Warnstreik auf. Auch unser Haus blieb geschlossen.

Nur drei Tage nach dem Warnstreik gab es bei den Tarifverhandlungen für die 2,14 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen eine Einigung. „Verdi“-Verhandlungsführer Frank Bsirske stellte ein Gesamtpaket vor, das die Sicherung der Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, eine neue Entgeltordnung für 1.088 Tätigkeiten und eine Erhöhung der Löhne und Gehälter in zwei Schritten um insgesamt 4,75 Prozent beinhaltet – 2,4 Prozent ab 1. März 2016 und 2,35 Prozent ab 1. Februar 2017. Die Ausbildungsvergütungen werden in zwei Schritten um insgesamt 65 Euro erhöht – 35 und 30 Euro ab diesen Stichtagen. Bis zuletzt hatten die Verhandlungspartner um eine Lösung für die betriebliche Altersversorgung gerungen, die bis zu einem Drittel der Rentenansprüche ausmacht. Dabei konnte eine Rentenkürzung verhindert werden.

Wie gut, dass wir uns nach unseren Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst in Bremen und anderswo 2015 so überhaupt nicht verarscht vorkommen müssen und auch kein bisschen nicht ernst genommen! Wir streikten vier Wochen lang, und das Ergebnis von kaum mehr als einem Appel und ’nem Ei war in den Augen vieler nur ein oberfauler Kompromiss. „Aufwertung jetzt“ gibt es ganz offensichtlich nicht für den Erziehungsbereich. Wir werden im pädagogischen Bereich wohl nur dann für voll genommen, wenn wir im Halbschatten der anderen Sparten des öffentlichen Dienstes wie dem Nahverkehr, der Müllabfuhr, der Kindertagesstätten oder Kliniken protestieren.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 

 

Ein bekanntes Geheimnis
ist enthüllt

Helmut MinkusSeit mindestens zwei Jahren werden nun allein in Deutschland die Bürger von über 70 Organisationen informiert über Inhalte der Handels- und Investitionsverträge Ceta, des „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ zwischen Kanada und Europa, sowie TTIP, der „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ zwischen den USA und Europa. In ganz Europa sind es inzwischen circa 240 Organisationen, die seit Mitte 2014 daran arbeiten, die Geheimnistuerei der Verhandlungspartner zu (er)klären.

In Europa und den USA wurden viele Demonstrationen, Aufklärungs- und Protestaktionen durchgeführt und Millionen von Unterschriften gesammelt, um die Verträge möglichst zu verhindern, von denen zwar jede(r) betroffen ist, aber niemand etwas wissen sollte. Seit Sonntagabend ist nun ein weiterer Meilenstein erreicht und wurde um 20 Uhr in der „Tagesschau“ verkündet: Das seit Jahren gehütete Geheimnis ist enthüllt und der genaue Verhandlungstext von TTIP öffentlich nachzulesen. Normale Verhandlungsbedingungen sind nun erfüllt, und ehrliche, konstruktive Debatten könnten beginnen.

„Greenpeace“ hatte in der Nacht von Sonntag auf Montag Textpassagen von TTIP auf das Reichstagsgebäude in Berlin projiziert, nachdem die Originalbeleuchtung verdunkelt wurde. Am Brandenburger Tor ist momentan ein gläserner Container als öffentlicher Leseraum aufgestellt, in dem der originale Wortlaut in der „Europasprache“ Englisch ausliegt. Die amerikanischen und europäischen Vorschläge stehen direkt vergleichbar nebeneinander. Es gibt auch schon erste Reaktionen von Betroffenen wie von Befürwortern.

„Die Befürchtungen der TTIP-Gegner sind jetzt belegt“, „Nicht nur Anwälte und andere Fachleute stellen endlich fest: Die Vertragstexte enthalten Stellen, die nicht gerade demokratisch sind“, „Es ist öffentlich ersichtlich, wie weit die Positionen der Verhandlungspartner noch auseinander liegen“. Solche und ähnliche Erkenntnisse und Entdeckungen werden überall gemacht. Auch wird deutlich, dass für US-Produkte kein Vorsorgeprinzip gelten soll: Jeder darf jeden Mist produzieren und überall verkaufen, ohne nachweisen zu müssen, dass er nicht schadet. Der Mangel an einem Produkt wird erst dann vielleicht behoben, wenn ein Konsument einen Schaden belegen kann.

Das gilt besonders für Lebensmittel und landwirtschaftliche Produkte: Solange ein Verbraucher nicht nachweisen kann, dass gentechnisch veränderte Organismen in Lebensmitteln schädlich sind, werden sie produziert, auch wenn es sinnlos ist. Solange sie den Profit des Herstellers garantieren, sollen sie überall verkauft werden, ohne Handelsbarrieren. Eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln war von Beginn ihrer Entwicklung – Mitte der 1990er Jahre – an nicht vorgesehen. Das wurde mit damaligen US-Regierungsvertretern und der „Food and Drug Administration“ so vereinbart, denn die betroffene Menschheit brauche das nicht zu wissen.

Trotz aller Euphorie über die Enthüllung von TTIP ist es wichtig zu verhindern, dass Ceta ratifiziert wird, denn es ist ein „Trojaner“. Sogar skrupellose Investoren, Wirtschaftskriminelle und sonstige Händler aus den USA werden in diesem kanadisch-europäischen Abkommen schon mit den gleichen Privilegien bedacht wie bei TTIP, wenn sie Tochterunternehmen in Kanada besitzen. Ceta wird seit 2009 geheim verhandelt und liegt seit Oktober 2014 bereit zum Unterschreiben. Da aber inzwischen Millionen Menschen über den Inhalte informiert wurden und dagegen protestieren, liegt es noch immer herum und versucht, „offiziell geheim“ zu bleiben.

Das kann es meinetwegen auch bleiben, solange es wirklich nur herumliegt. Gegen Ceta gibt es am 7. Mai 2016 ab 14 Uhr in Minden eine weitere große De­monst­ra­tion. Veranstalter ist ein Bündnis von 20 Organisationen. Jeder Mensch sollte sich seiner Macht als Konsument bewusst werden und solche Protestmöglichkeiten nutzen, damit wir nicht unbemerkt mit einer „demokratischen“ Wirtschaftsdiktatur untergehen, die nur noch von klagenden Investoren, skrupellosen Geschäftemachern und „armen Millionären“ regiert wird, „zum Wohle der Menschheit“.

Helmut Minkus (parteilos)
 
„Schande über Deutschland“: Merkel hat dem Despoten einen Künstler
filetiert und zum Tee serviert(„Bundesdeutsche Zeitung“)
 

 
Bremen entspannt sich: Wenn ich Selbstzerstörung betreiben will,
kauf ich mir ’ne Prinzenrolle („Tageszeitung“)
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz