533. Bremer Montagsdemo
am 24. 08. 2015  I◄◄  ►►I

 

Im TV genügt ein Anruf, um ein Vorstellungsgespräch zu bekommen

Elisabeth Graf1. Am 18. August 2015 strahlte die ARD das Magazin „Fakt“ aus. Der Beitrag „Zehn Jahre Hartz IV – Der erfahrene Arbeitsvermittler“ löste mehr als nur Unmut in mir aus. Es sollen drei Tage in einem Vermittlungsseminar für Langzeiterwerbslose in Meißen gedreht worden sein. Kursleiter Lars Naundorf befragt einen jungen Mann, ob er irgendwo nach Stellen geguckt oder Absagen bekommen habe. Der junge Mann, der Robert Grille genannt wird, verneint. Auf die Frage, wie lange sein letztes Arbeitsverhältnis her sei, antwortet er lakonisch, dass dies „lange“ her sei. Nein, er habe weder einen Lebenslauf noch andere Unterlagen mit. Er verkreuzt die Arme vor der Brust und grinst. Eine Sprecherin sagt, Robert Grille sei auch im weiteren Gesprächsverlauf wortkarg geblieben.

Den Zuschauern wird mitgeteilt, dass die 16 Teilnehmer „resigniert“ sind. Während Lars Naundorf als „Profi für verzwickte Situationen“ versuche, das Eis zu brechen, stoße er auf Gegenwehr. Für solche Kurse werde er bundesweit von den Jobcentern engagiert. Der „Profi“ fragt, wer „uns“ – die Teilnehmer – „dazu“ – also arbeitslos – gemacht, wer oder was über Jahre dazu geführt habe, dass „wir“ wieder „so klein“ seien. Dazu zeigt er mit den Fingern, wie klein. Schnitt: In der Pause unterhalten sich zwei Teilnehmer darüber, dass hier „immer dasselbe“ zu hören ist, was aber nichts bringt. Eine freundliche Stimme belehrt die Zuschauer, der Kurs sei doch sehr konkret, das Thema laute nun: „Wie ich einen direkten Kontakt zum Arbeitgeber bekomme“.

Ein Lichtblick auch, als Cosima Geißler bei einem Arbeitgeber anruft und die Chancen so gut sind, dass die umtriebige Teilnehmerin kurze Zeit später einen Arbeitsvertrag unterschreiben wird. Schnitt: Die Kommentatorin erzählt, dass sich die Reihen am Nachmittag schon erheblich gelichtet haben, nur noch zehn Personen seien da. Weil insgesamt 32 Hartz-IV-Empfänger eingeladen wurden, sei die Zahl derer, die gar nicht erst gekommen sind, erschreckend. Schnitt: Am zweiten Tag gibt es wieder eine gute Nachricht. Ronny Kaufmann habe sich nach dem ersten Tag ein Vorstellungsgespräch „organisiert“ und soll nun sogar schon zur Probe arbeiten. Lars Naundorf resümiert, es sei am Ende ein einziger Anruf und auch „ganz einfach“ gewesen, „mal den Mut zu nehmen, zum Telefon zu greifen“.

Die Sprecherin teilt mit, der „notorische Nachzügler“ sei eingetrudelt. Dies wird vom Kursleiter damit kommentiert, dass die Winterzeit im März beendet worden ist. Die Stimmung habe sich wieder verschlechtert: Unterlagen seien nicht wie verlangt mitgebracht worden, Robert Grille konnte sich an frühere Bewerbungen nicht erinnern. Lars Naundorf platzt der Kragen, weil Robert Grille von den zwölf Bewerbungen innerhalb eines Jahres nicht eine einfalle. Er fragt nach der Ernsthaftigkeit: Was sei das für eine Wertschätzung des Arbeitgebers?

Schnitt: Wir lernen in der Pause Cathleen Jura kennen, die früher einmal Köchin gelernt hat und es nun als alleinerziehende Mutter einer schwerbehinderten Tochter nicht leicht hat, eine Stelle zu finden. Lars Naundorf will, dass sie „offensiver“ auftritt, weil sie seit zehn Jahren arbeitslos sei. So hilft er nach und verschafft Cathleen Jura ein Vorstellungsgespräch, wofür sie sich bedankt. Schnitt: Am letzten Tag ist alles ganz anders. Der Kursleiter bittet zu intensiven Gesprächen mit maximal zwei Teilnehmern. Sandra Brand äußert, dass sie ein bisschen Durchfall hat. Ihr sei schlecht, sie fühle sich nicht gut, sei aber trotzdem gekommen. Nun wolle sie jedoch wieder nach Hause, ins Bett.

Also fragt Lars Naundorf einem jungen Mann, was er dazu sagen würde, wenn er einen Job für ihn habe. Der Teilnehmer fragt nur, wo. Als der Kursleiter Meißen sagt, findet er das schlecht, er möchte eigentlich nach Köln. Schnitt: Cathleen Jura kommt vom Vorstellungsgespräch und hat eine Probearbeit ergattert. Lars Naundorf fragt, wie sich das „anfühlt“. Sie antwortet, dass sie begeistert war, es sei „Wahnsinn“. Die Sprecherin kommentiert, dass dies nun wirklich Wahnsinn sei, das Ende von zehn Jahren Arbeitslosigkeit für Cathleen Jura.

Schnitt: „Zurück zu Robert Grille, dem Mann, der weiterhin demonstrative Lustlosigkeit ausstrahlt.“ Lars Naundorf fragt den jungen Mann, wann er zuletzt auf der Jobbörsenseite der Arbeitsagentur gewesen sei. Als Robert Grille schweigt und grinst, fragt ihn der Kursleiter, ob er lieber wieder loswolle, und wird auch hierfür zur Antwort angegrinst. Der Kursleiter sagt, dass er ihn nicht quälen, aber auch von ihm nicht gequält werden wolle. Im Moment sei es aber „gequält“. Robert Grille verschränkt die Arme hinter dem Kopf und kratzt sich. Lars Naundorf sagt, Robert Grille wolle sich die Stellen noch nicht mal ansehen, gucke nur nach unten und grinse in sich hinein. Er wolle es gerne beenden, müsse sich noch vorbereiten.

Die Kommentatorin fasst zusammen, dass derartiger „Unwillen“ auch für Lars Naundorf nicht alltäglich sei. Dies könne Konsequenzen haben, denn der Kursleiter wolle dem Jobcenter mitteilen, wie Robert Grille sich verhalten habe. Robert Grille habe ihm klar gesagt, er möchte nicht, dass er anruft, sondern ihm die Gelegenheit für ein Vorstellungsgespräch schafft. Schnitt: die nüchterne Bilanz der drei Tage. Das Negative: Von 32 Teilnehmern kamen nur 16, am letzten Tag fehlten vier Arbeitslose unentschuldigt. Die Erfolge: Drei Teilnehmer seien raus aus Hartz IV und hätten wieder Arbeit. Cathleen Jura arbeite zur Probe und habe nach vielen Jahren wieder eine „echte Chance“. Vier weitere Teilnehmer seien bei Vorstellungsgesprächen gelandet.

Ich habe mir die Mühe gemacht, das Gesagte des Beitrages mitzuschreiben, und nutze meine Unterlagen dazu, dies in eben dieser Form der gehörten Sprache zu beschreiben. Was hörten wir? Von den „eingeladenen“ Erwerbslosen kam nur die Hälfte. In der Realität müssen Erwerbslose, die in solch eine Maßnahme gesteckt werden, aber nicht erscheinen, mit heftigen Sanktionen ihrer kargen Bezüge rechnen. Arbeit zu bekommen, wird per se wie ein Sechser im Lotto gehandhabt, völlig unabhängig von der Höhe des Gehaltes. Es wird vorausgesetzt und so propagiert, als ob das Gehalt für die Betroffenen selbst und sogar noch für den Unterhalt einer Familie ausreichend sei. Dabei muss sich doch das Ergebnis des von Gerhard Schröder eingeführten Dumpinglohnsektors langsam herumgesprochen haben.

Um Erwerbslose zu diskriminieren und zu diffamieren, sind der Fantasie des Neoliberalismus keine Grenzen gesetzt. Die Hetzer bedienen sich eines ganz besonders fiesen Charakters. Aber können sie einem Fernsehteam so vorgeführt werden? Der erwerbslose Robert Grille wird wie die Kunstfigur des „arbeitsunwilligen“ Arno Dübel dargestellt, der für das Klischee des faulen Arbeitslosen herhalten muss und dafür wahrscheinlich bezahlt wurde. Welcher Erwerbslose ließe sich freiwillig dabei filmen, wie er praktisch alles verweigert, nichts Gefordertes bringt? Jeder weiß doch, dass er bei solchem Verhalten mit heftigen Sanktionen zu rechnen hätte, die die eigene Existenz stark gefährden!

Niemand, der etwas amtlich Gefordertes wirklich nicht erfüllen kann, begäbe sich grinsend in eine derart überheblich erscheinende, abwehrende Haltung. Wer tatsächlich so wie Robert Grille alles abwehren wollte, würde sich dessen kaum im Fernsehen rühmen wollen, sondern lieber dafür sorgen, dass die Nachbarn das vermeintliche Fehlverhalten nicht sehen können. Überhaupt haben wir ja so einen tollen Arbeitsmarkt, dass schon ein Anruf genügt, um an ein Vorstellungsgespräch zu kommen – sei es durch den tollen Supermann-Kursleiter oder wenn die Kursteilnehmer nur mal den Hintern hochkriegen, sich gegen ihre eigene Resignation zur Wehr setzen und sich lediglich ganz einfach den Mut für einen Anruf aus dem Telefonbuch pflücken!

Mit diesem Beitrag werden in meine Augen Millionen von Erwerbslosen verhöhnt, beleidigt und entmündigt. „Normale“ Zuschauer, also solche mit Arbeit, Rente oder ererbtem Geld, werden verarscht und belogen über das „Feindbild Arbeitslose“. Unabhängig davon, dass ich persönlich die Darstellung des Kurses für ein Fake halte, zeigte sich doch mal wieder ganz wunderbar, dass Arbeitssuchende wie kleine Schulkinder behandelt werden.

 

2. Um zu erkennen, dass Jobcenter oft eher schaden als helfen, ist die Lektüre eines Interviews mit dem Sozialpädagogen Dirk Kratz in der „Zeit“ vom 24. Februar 2014 interessant. Er beschreibt, wie Erwerbslosen automatisch Defizite unterstellt werden, die angeblich durch Qualifizierungsmaßnahmen behebbar seien. Doch in Wirklichkeit würden sie bloß verstärkt, weil die Vermittlung nicht funktioniere. Dadurch entfernten sich die Erwerbslosen nur noch weiter vom Arbeitsmarkt. Ihre Berufserfahrung veralte, ihr Selbstbewusstsein leide, und sie fänden noch schwerer einen Job. Erwachsenen mit eigener Lebens- und Berufserfahrung werde ihre komplette Berufsbiografie vom Amt entwertet.

Statt die Erfahrung als Basis zu nutzen, aus der sich etwas Neues entwickeln könnte, wird sie nur noch als Defizit betrachtet, das es zu beheben gälte. Kratz untersuchte, welche Hilfen für Langzeiterwerbslose sinnvoll sind, um wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er analysierte die aktuelle Vermittlungspraxis in den Arbeitsagenturen und Jobcentern und erkannte, dass das übliche Vorgehen bei der Arbeitsvermittlung weit von dem abweicht, was Erwerbslose benötigen. „So wie die Hilfe derzeit angelegt ist, richten die Jobcenter großen Schaden an. Sie machen mehr kaputt, als dass sie helfen. Das ist ein ganz zentrales Ergebnis meiner Arbeit“, berichtete Kratz.

Jobcenter und Arbeitsagenturen gingen grundsätzlich davon aus, dass ein Mangel an bestimmten Fähigkeiten Ursache der Erwerbslosigkeit ist. Deshalb würden Betroffene in häufig unpassende Maßnahmen gesteckt. Kratz berichtet in diesem Zusammenhang von Rechtschreibkursen und Ähnlichem, bei denen entsprechende Defizite von vornherein unterstellt werden. Leider las ich aber auch in der Beschreibung seiner Doktorarbeit nirgends, dass es einfach zu wenig bezahlte Arbeitsstellen gibt, wodurch schon klar sein muss, dass das unterstellte persönliche Problem bei der Arbeitsfindung eigentlich ein gesellschaftliches ist, das aber immer den Millionen Betroffenen einzeln, personifiziert anzuhängen versucht wird.

Kratz sagt: „Wenn die Arbeitslosen trotz aller Qualifikationsmaßnahmen keine neue Stelle finden – was oft der Fall ist –, reagiert das Amt mit immer neuen Defizit-Diagnosen. Irgendwann schreibt man den Arbeitslosen nicht nur fachliche Defizite zu, sondern auch psychologische oder medizinische Probleme. Da kommen sie nur schwer wieder raus.“ Mehr Mitspracherechte für Arbeitslose wären wichtig, „statt dass über ihren Kopf hinweg entschieden wird, was mit ihnen geschieht, so wie bisher“.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 

 
Der Unterstützerkreis „Öffnet die Grenzen – Kobanê muss leben!“ möchte ein Solidaritätsfest für den kurdischen Freiheitskampf auf die Beine stellen. Die Einnahmen und Spenden dieses Festes sollen für den Wiederaufbau in Kobanê eingesetzt werden. Als Termin wird Samstag, der 19. September 2015, vorgeschlagen. Ein Vorbereitungstreffen findet am Mittwoch, dem 26. August, um 17 Uhr beim Verein „Birati“ in der Friedrich-Ebert-Straße 20 statt.
Dieses Mal erschallt zum Antikriegstag am 1. September 2015 auf dem Marktplatz ab 17 Uhr ein unheimlich düsteres Trommeln. Auf diese Weise will das „Bremer Friedensforum“ mit Schautafeln verschiedener Größe und Pappschildern, die „Steckbriefe“ enthalten, sowie mit kurzen Redebeiträgen auf die todbringenden Bremer Rüstungsbetriebe aufmerksam machen. Die „Steckbriefe“ enthalten Kurzangaben über Gründung, Betätigung, Mitarbeiter(innen)zahl und Umsätze der jeweiligen Firma.
 
Jeden Tag brennt ein Flüchtlingsheim: Aber die Polizei jagt linke Demonstranten und verhaftet Pressefotografen („Spiegel-Online“)
 
Der Osten ist rechts: Wo nur ein Sechstel der Bevölkerung lebt, geschieht
die Hälfte aller rassistischen Gewalttaten („Frankfurter Rundschau“)
 
Die Tragödie ist nicht das Werk von Schleppern: Für das Sterben
verantwortlich ist eine Politik, die den Menschen jeden legalen
Fluchtweg aus der Kriegshölle versperrt hat („Der Standard“)
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz