1. Die Bedingungen, unter dem vermaledeiten Hartz IV vegetieren zu müssen, verderben bereits den Kleinsten die Kindheit. Meiner eigenen Erfahrung nach gehen Ausgrenzung und Armut aber viel weiter, als „nur“ für Kino- und Theaterbesuche kein Geld und weniger Freunde zu haben, die zum Essen bleiben könnten. Es ist nicht nur der Verzicht auf normale Dinge, die für andere Kinder selbstverständlich sind, sondern die Kinder bekommen auch die ewige finanzielle Unsicherheit ihrer Eltern mit, deren Existenz- und Zukunftsangst, die Furcht vor Vorladungen zum Jobcenter, davor, in einer sinnlosen Maßnahme geparkt zu werden, dass die Heizung oft ausbleiben muss und nur sehr kurz geduscht werden kann. Ja, Hartz IV geht bereits Kindern an die Substanz!
Schuleingangsuntersuchungen diagnostizieren bei Kindern, deren Eltern mit der viel zu knappen staatlichen Leistung auskommen müssen, mehr als doppelt so häufig Defizite in der Entwicklung wie bei Kindern, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen dürfen. Natürlich gehen gesundheitliche und körperliche Beeinträchtigungen mit einer geringeren Teilhabe der armen Kinder an sozialen und kulturellen Angeboten einher. Aber wovon sollten die Eltern auch Musikunterricht, einen Sportverein oder Ähnliches finanzieren können? Mit dem „Bildungsgutschein“ von Frau von der Leyen sicher nicht!
Wenn dann immer wieder behauptet wird, dass Menschen, die mit Hartz IV auskommen können müssen, lediglich „armutsgefährdet“ seien, wird schlicht an der Wirklichkeit vorbeigeguckt, weil nach dem nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientierten Zahlensalat eben nicht sein kann, was nicht sein darf. Kinderarmut wirkt sehr früh sehr nachhaltig, und zwar negativ. Aber was haben Schröder und Konsorten erwartet, als sie Hartz IV einführten, einen gigantischen Dumpinglohnsektor aufbauten und damit einer stetig wachsenden Ungleichheit Tür und Tor weit öffneten?
2. Eine aktuelle OECD-Studie zeigt, dass ausgerechnet in Deutschland die Kluft zwischen Arm und Reich am stärksten wächst. Die Reichen in Deutschland werden immer wohlhabender: 60 bis 70 Prozent des Gesamtvermögens sind mittlerweile in den Händen der reichsten zehn Prozent. Die allerreichsten 0,1 Prozent besitzen sogar allein rund 15 Prozent, die ärmsten 60 Prozent hingegen nur noch schlappe sechs Prozent des gesamten Vermögens. Obwohl unsere Wirtschaft doch gen Himmel wächst, schmilzt die Mittelschicht und immer mehr Kinder und Ältere verarmen.
Diese extreme Ungleichheit stellt eben nicht den Gegenstand einer Neiddebatte dar, sondern spaltet die Gesellschaft und lässt die Armut beängstigend sprießen und gedeihen, was die Demokratie aushöhlt. Es ist wirklich nicht nachzuvollziehen, dass sich darüber nur so wenige Menschen aufregen und dass es keine Massendemos gibt! 2013 erreichte die Armutsquote in Deutschland, einer der wichtigsten Industrienationen der Welt, ein Rekordniveau von rund 15,5 Prozent der Bevölkerung. Wie immer trifft die galoppierende Armut in unserem Land Alleinerziehende, Frauen, Erwerbslose und Ältere am allerhärtesten.
Die Mittelschicht schrumpft derweil scheinbar unbemerkt, aber schockierend beständig und muss im Verhältnis zu ihrem Einkommen die meisten Sozialabgaben schultern, während Reiche durch Steuerentlastungen auch noch zusätzlich begünstigt werden. Da eine Durchlässigkeit von unten in die Mittelschicht und von dort nach oben kaum noch möglich ist, bleiben die wenigen Vermögenden hübsch unter sich. Sie sichern sich zumeist durch Kapital- und Aktienbesitz und natürlich Erbschaften ihren behaglichen Wohlstand. Wir kommen kaum umhin, daraus zu lernen, dass sich Leistung offenbar immer weniger lohnt, wenn Einkommen durch Arbeit gegenüber Vermögenswerten immer mehr an Boden verlieren und „atypische“ Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland mittlerweile 40 Prozent der Beschäftigung ausmachen.
Darin sieht die OECD den hauptverantwortlichen Faktor für die Lohnkluft, die zwischen oben und unten auch immer größer wird. Der Begriff „Armut“ muss endlich in seiner Komplexität erfasst werden, denn in unserem Land bedeutet „Arm sein“ nicht nur einen Mangel an finanziellen Mitteln, sondern auch Armut an Chancen, guter Gesundheitsvorsorge, Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten sowie Kommunikation. Kein Wunder, dass sich inmitten solcher Armut das Gefühl von „sozialem Ausschluss“ entwickelt und fast keine finanziell Armen mehr wählen gehen, wenn sie doch beständig die Erfahrung machen, dass sich kaum jemand aus der Politik für soziale Gerechtigkeit interessiert – von Lippenbekenntnissen einmal abgesehen. Es wird Zeit, dass die Politiker ihre Hausaufgaben erledigen und wirklich Verantwortung für alle Bürger übernehmen, damit die Bundesrepublik zu einem Land der Chancengleichheit wird!
3. Weil fast die Hälfte aller Hartz-IV-Bezieher, die einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben, nach einem halben Jahr erneut arbeitslos ist, will die Bundesregierung sie noch länger „betreuen“ als ohnehin schon. Bis zu 300.000 bereits vermittelte Erwerbslose sollen davon „profitieren“ können. Bisher gibt es eine solche „Nachbetreuung“ nur für sogenannte Aufstocker, die aufgrund ihres niedrigen Arbeitseinkommens zusätzlich auf Hartz IV angewiesen sind, sowie für Beschäftigte, die vom Jobcenter gefördert werden. Ich kenne nur ehemalige Erwerbslose, die unendlich froh darüber sind, den Klauen der Jobcenter durch Arbeit entflohen zu sein.
In welchem Tenor die Zwangsbeglückung durch eine Verlängerung der Verfolgungsbetreuung zu stehen scheint, macht mir die Formulierung des gleichen Sachverhaltes in der „Welt“ deutlich: „Viele Arbeitslose, die eine Stelle antreten, fliegen nach kurzer Zeit wieder raus. Ministerin Nahles will gegensteuern. Bis zu 300.000 Ex-Hartz-IV-Bezieher sollen im neuen Job ‚nachbetreut‘ werden.“ Schon von Weitem riecht es förmlich nach der Unterstellung, dass die ehemaligen Langzeitarbeitslosen selbstredend allein dafür verantwortlich zu sein haben, wenn sie sich bereits nach Ablauf von sechs Monaten wieder als „Kunden“ des Jobcenters wiederfinden.
Ob wohl unterstellt wird, dass sie durch Unpünktlichkeit, ewiges Kranksein oder Arbeit im Schneckentempo aufgefallen sind? Sollten die Damen und Herren Politiker ihre eigenen kruden Gesetze „vergessen“ haben, die doch genau zu solch einem Drehtüreffekt führen, wenn Unternehmen in den ersten sechs Monaten mit einer monetären Unterstützung vonseiten des Arbeitsamtes rechnen können? Oder denken wir daran, dass Langzeiterwerbslose im Zuge der Einführung eines unsäglich zu niedrigen Mindestlohnes in den ersten sechs Monaten ihrer „Einstellung“ eben dieser für sie gar nicht erst bezahlt werden muss? Welcher Unternehmer würde denn von sich aus auf diese Bereicherung verzichten und dann nicht sofort den nächsten Langzeiterwerbslosen anfordern? Billiger geht’s nimmer!
Bin ich froh, dass damals niemand auf die Idee kommen konnte, mich „nachzubetreuen“, als ich wieder auf dem Arbeitsmarkt landete und mir selbst mit über 50 Jahren eine unbefristete Vollzeitstelle suchen konnte! Ich bin entsetzt, dass die stellvertretende Vorsitzende und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann, ins gleiche Horn zu blasen scheint und eine „Nachbetreuung“ für Langzeiterwerbslose haben möchte! Solch eine Behandlung empfinde ich als diskriminierend und entmündigend. Wahrscheinlich ist bei einer Verweigerung der „Zusammenarbeit“ auch mit Sanktionen zu rechnen. Ich dachte, „Die Linke“ setzt sich für Erwerbslose so wie in Bremen ein, aber das scheint nicht flächendeckend der Fall zu sein!
Warum werden nicht die Subventionen für Unternehmer abgeschafft, die Erwerbslose nur zum Schein begünstigen? Mal sehen, wie viele dann überhaupt noch für sechs Monate eingestellt werden! Offenbar will niemand wahrhaben, dass nicht für alle eine bezahlte Arbeit vorhanden ist. Nach dieser Logik muss aus einem gesellschaftlichen Problem ein individuelles gebastelt werden. Außerdem wird immer noch beständig das Märchen vom Facharbeitermangel dahergeschwurbelt. Viele Unternehmen übernehmen ihre jungen Mitarbeiter nach erfolgreicher Ausbildung nicht und hoffen wahrscheinlich auf gut ausgebildete Billigkräfte aus dem Ausland.
4. Diesen Montag, drei Wochen nach Beginn des Streiks der Erzieherinnen und Sozialpädagogen, setzt sich in Berlin die „Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber“ mit der Gewerkschaft Verdi zu Gesprächen an einen Tisch. Ich kann mir kein Ende des Streiks vorstellen, weil die Arbeitgeber die Gewerkschaftsforderung nach einer besseren Eingruppierung – und damit verbunden eine pauschale Gehaltserhöhung für alle – kategorisch ablehnen. Ich kann durchaus verstehen, wie schwierig es für die Eltern ist und immer mehr wird, ihre Kinder ersatzweise gut unterzubringen, je länger der Streik dauert, und das tut mir auch leid. Aber solange die Arbeitgeber ihren schönen Worten keine Taten folgen lassen, müssen wir weitermachen, sonst würden wir uns zur unglaubwürdigen Manövriermasse verschaukeln lassen!
Wir vermissen unsere Arbeit und die Kinder auch, doch wollen wir uns kein schlechtes Gewissen einreden lassen, wenn wir uns für uns einsetzen. Wer außer uns selbst sollte das tun können? Dabei gehen wir den Kindern mit gutem Beispiel voran und zeigen, dass es möglich ist, sich für eigene Ziele einzusetzen und Selbstwirksamkeit zu leben. Seit der Zeit, als wir noch mit weißen Schürzen als Kindergärtnerinnen arbeiteten, haben sich die Anforderungen an uns gewaltig verändert. Inzwischen hat sich unsere Ausbildung um Jahre verlängert. Wir haben einen Bildungsauftrag, geben Sprachförderung, müssen unsere Arbeit mit den Kindern in verschiedenen Lernentwicklungsdokumentationen festhalten, aber nichts davon schlägt sich in unserem Gehalt nieder!
Vor hundert Jahren verrichteten die Frauen das „soziale Gedöns“ noch umsonst. Deswegen werden die sogenannten weiblichen Berufe noch immer so grottenschlecht bezahlt! Darum finden auch nur wenige Männer den Weg in unseren Beruf, obwohl ihre Arbeit mit den Kindern so wichtig ist. Leider trifft der Streik der Erzieherinnen und Erzieher die Arbeitgeber selbst nicht ökonomisch. Diese können im Zweifel sogar weiter Gebühren für eine Leistung kassieren, die sie nicht mehr anbieten können. Der Arbeitskampf geht leider voll auf Kosten der Eltern und Kinder. Die öffentlichen Arbeitgeber können sich zurücklehnen und zuschauen, wie die wachsende Wut und Verzweiflung sich gegen die Erzieher und ihre Gewerkschaft richtet.
Es ist gut, dass Eltern in einigen Städten dieses Spiel nicht mitmachen und in die Rathäuser gezogen sind, um die politisch Verantwortlichen mit ihrer Lage zu konfrontieren. Das ist die richtige Adresse, denn es ist eine politische Entscheidung, ob all den Bekenntnissen zur „Bildungsrepublik“ Taten folgen. Wir lesen in der Mainstream-Presse, Kitastreiks seien unnötig, wir Erzieherinnen würden „auf hohem Niveau“ schimpfen. Es ist aber eine politische Entscheidung, wie viel Geld aus den Steuereinnahmen den Kommunen zu Verfügung steht, um die grundlegenden Leistungen der Daseinsvorsorge zu finanzieren. Geld ist genug da, es muss nur endlich neu und anders verteilt werden! „Nichts auf der Welt ist so kraftvoll wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, sagte Viktor Hugo.
So erlebte ich letzte Woche die Demo in Hamburg, als wir mit 15.000 Menschen demonstrierten und es in Frankfurt mindestens ebenso viele waren. Es ist an der Zeit, dass die sozialen Berufe endlich aufgewertet werden, und nicht einzusehen, dass produzierende Arbeiten besser bezahlt werden als reproduzierende, ohne die eine Gesellschaft gar nicht funktionieren kann. Ich will mich auch gar nicht mit Feuerwehrleuten messen, weil auch die zu wenig Lohn bekommen! Hoffentlich stecken wir die Alten- und Krankenpfleger(innen) mit an, sich für sich einzusetzen! Auf den Streik und auf ein Verhandlungsergebnis bezogen, sage ich: Am Ende ist alles gut, und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende!