473. Bremer Montagsdemo
am 26. 05. 2014  I◄◄  ►►I

 

Fühlen sich weite Teile der
Bevölkerung überhaupt noch
durch die Politik vertreten?

Elisabeth Graf1. Wenn Flaschensammler in Mülleimer greifen müssen, sieht das in diesem eigentlich sehr reichen Land schon ziemlich würdelos aus. Niemand weiß, worauf die tastenden Finger im Abfall stoßen werden, Essensreste und Glassplitter sollen noch das Harmloseste sein. Seit einigen Wochen hängen nun am Bahnhof und anderswo Pfandkisten, die dazu einladen, leere Flaschen dort abzustellen, statt sie wegzuschmeißen. Dahinter stecken die Hamburger Initiative „Pfand gehört daneben“ und der Getränkehersteller Lemonaid, die die Menschen dadurch für das Thema Armut im Alltag sensibilisieren möchten. Die Bremer Umweltbehörde hat keine grundsätzlichen Bedenken, wenn die Kisten weder jemanden gefährden noch Blinde oder den Publikumsverkehr an den Haltestellen stören.

In Bamberg wird zurzeit getestet, ob öffentliche Mülleimer mit Pfandringen versehen werden können, die eine stabile Abstellmöglichkeit für Flaschen bieten. In Hameln wurde die stadtweite Einführung von Pfandringen bereits im Umweltausschuss beschlossen. Dabei folgten die Parteien einem Antrag von „Linken“ und Piraten, in dem es heißt, dass solche Ringe Sammlern „das würdelose Durchsuchen von Mülleimern“ ersparen sollten. Die Bremer Umweltbehörde hat sich indes dagegen entschieden. Sie will in der nächsten Zeit keine Pfandringe einführen. Es werden Bedenken geäußert, dass womöglich nur noch ein Bruchteil bei den Bedürftigen ankomme, wenn sich jeder so leicht bedienen könne, dass manche im Auto vorführen, die mit den Pfandflaschen professionell Geschäfte machten.

In Hamburg sollen Bilder von Menschen, von Obdachlosen, ALG-II- Beziehern, Rentnern und Jugendlichen, die Flaschen aus Mülleimern sammeln, der Vergangenheit angehören. Darum wurden in der Fußgängerzone quasi über Nacht die vorhandenen Mülleimer durch 160 aus Steuergeldern finanzierte Hightechmülleimer ausgetauscht, die das Fischen nach Leergut verunmöglichen. Auch am Hauptbahnhof und an sämtlichen Bahnsteigen ist das Durchsuchen von Mülleimern mittlerweile untersagt. Es heißt, der Bahnhof solle ein „stimmiges“ Bild abgeben. Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer kritisiert, dass durch solch große Mülleimer die Flaschensammler verschwänden, damit die Stadt „sauberer“ werde. In einer reichen Stadt wie Hamburg solle die Armut nicht sichtbar sein. Darauf antwortet Andree Möller von der Stadtreinigung lapidar, diese Papierkörbe seien nur aufgestellt worden, um insbesondere jetzt zur Veranstaltungssaison „noch bessere Sauberkeit“ herzustellen.

Die neuen Mülleimer, an denen sich mit Hilfe von Solarzellen der Füllstand überwachen lässt, kosten pro Stück fast 5.000 Euro. Die Klappe an den Mülleimern sorgt aber dafür, dass jede Pfandflasche verloren ist. Es wird komplett ignoriert, dass das Flaschensammeln für immer mehr Menschen ein wichtiger Bestandteil ihrer Existenz ist, ohne den sie noch mehr in Armut leben müssen als ohnehin schon. Schließlich sammelt niemand nur zu seinem Vergnügen Flaschen aus Mülleimern, sondern um mit circa fünf Euro mehr am Tag gerade so über die Runden zu kommen. 800.000 Euro Steuergelder werden verschwendet, damit der schöne Schein von allgemeinem Wohlstand gewahrt wird, statt mit dem Geld armen Obdachlosen, ALG-II-Beziehern, Rentnern und Jugendlichen zu helfen.

 

2. Letzte Woche passierte das teuerste Sozialprojekt der schwarz-roten Koalition, das „Rentenpaket“, den Bundestag. Milliarden Beitragszahler-Euro werden umverteilt. Diese euphemistische Mogelpackung trieft nur so vor sozialer Ungerechtigkeit, und ich frage mich, warum Andrea Nahles nicht die Schamesröte ins Gesicht steigt, wenn sie sich zu betonen getraut, es sei das gemeinsame Anliegen von Union und SPD, „gelebte Solidarität als Grundprinzip in unserer Gesellschaft zu stärken“. Der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, warf der Koalition vor, die Prioritäten falsch gesetzt zu haben und nichts gegen das wachsende Problem der Altersarmut zu tun.

Der größte Batzen des Pakets ist die sogenannte Mütterrente, die dafür sorgt, dass 9,5 Millionen ältere Frauen und 150.000 Männer, die vor 1992 geborene Kinder aufzogen, an monatlichem Ruhegeld 28, im Osten 24 Euro mehr pro Kind bekommen. Jährlich 6,7 Milliarden Euro kostet das Rentenplus, das ab 1. Juli an die Rentnerinnen automatisch ausgezahlt wird. Leider werden aber ausgerechnet jene Frauen, die das Geld am dringendsten brauchen, überhaupt gar nichts davon haben, denn Mütter, die wegen einer zu geringen Rente noch aufstockende Grundsicherung bekommen, können nicht davon profitieren, weil der Rentenzuschlag mit der Pseudo-Grundsicherung verrechnet wird.

Das läuft hier genau so wie bei einer Erhöhung des Kindergeldes, von der ausgerechnet die ärmsten der Armen nichts haben, weil absolut jeder Cent angerechnet wird. Den Müttern ist es doch schnurzpiepegal, aus welchem Topf sie ihr Zuwenig an Mütterrente, an Rente überhaupt bekommen! Da werden doch nur die Ansprüche an diese Töpfe gewechselt. Das Minus einer viel zu niedrigen Rente bleibt bei den armen Müttern wieder mal bestehen.

 

3. Die Europawahl ist gelaufen. In Deutschland haben die Erzkonservativen die meisten und die Spezialdemokraten die zweitmeisten Stimmen bekommen – von jenen, die überhaupt zur Wahl gegangen sind. Das stand zu befürchten. Doch wird es vermutlich trotzdem wieder heißen, eigentliche Gewinnerin der Europawahl sei die „Partei der Nichtwähler“, auch wenn es die eigentlich gar nicht gibt. Manche Erklärungen für das Nichtwählen gefallen mir überhaupt nicht, weil ich sie nur für populistische Stimmungsmache und keineswegs für fundiert halte, so zum Beispiel, dass ganz vorne Sorglosigkeit und Bequemlichkeit, Krankheit oder geringe Bildung lägen. Die Wahlforschung wisse, dass Obdachlose in der Regel ebenso wenig wählen gingen wie die Zeugen Jehovas, die Jüngeren und die wahlmuffeligen Städter. Wer auf dem Lande lebe, gehe in der Regel wählen, weil dort der Zusammenhalt größer sei.

Ich denke, es geht vielmehr darum, ob sich weite Teile der Bevölkerung überhaupt noch durch die Politik und die Politiker vertreten fühlen. Warum soll noch wählen gehen, wer sich durch Arbeitslosigkeit oder eine viel zu geringe Rente, also dauerhafte Armut, ausgegrenzt fühlt und es auch ist, wer dazu keinerlei Erfolgsmöglichkeit sieht, daran etwas verändern zu können, weil zum Beispiel das Vermögen in Deutschland extrem ungleich verteilt ist und niemand durch seiner Hände Arbeit reich werden kann, der nicht zuvor Geld oder Besitz geerbt hat? Schließlich finanziert sich der Staat zunehmend aus der Mehrwertsteuer, und das hat etwas grandios Ungerechtes: je höher das Einkommen, desto unbedeutender die Mehrwertsteuer, weil Geringverdiener schließlich einen viel größeren Anteil ihres Geldes für den Konsum aufwenden müssen als Reiche.

Wer viel Geld hat, trinkt deshalb nicht mehr Milch und kauft auch nicht ständig neue Fernseher. In der ständigen Erhöhung der Mehrwertsteuer liegt wohl auch der Beweis für die Unfähigkeit der Politik(er), die höheren Einkommen mehr zu besteuern, sich also das Geld da zu holen, wo es vorhanden sei. Nirgendwo in der Eurozone sind die Vermögen so extrem ungleich verteilt wie in Deutschland, weil Reiche vergleichsweise wenig an den Fiskus abgeben müssen („Der Spiegel“, Heft 19/2014, Seite 59: „Bitte unten bleiben“). Es gilt eben das Prinzip: Wer Vermögen hat, dem wird gegeben – und umgekehrt. Da gibt es noch mehr Beispiele aus allen möglichen Bereichen. Wer die hohlen Worthülsen vieler Politiker hört, das inhaltslose Geblubber in Bezug auf die angeblichen Verbesserungen für Erwerbslose, Rentner, Kranke, also Ausgegrenzte, neoliberal ökonomisch nicht mehr Verwertbare, der kann sich doch nur verschaukelt fühlen, sofern er oder sie auf Transferleistungen angewiesen ist!

Dennoch plädiere ich dafür, dass auch zur Wahl gehen sollte, wer sich ausgegrenzt fühlt. Natürlich keine Stimme für die Verschaukler abgeben, aber vielleicht eine für die Tierschützer oder ähnliche, damit keine Stimme verschenkt wird, also die ungewollten Parteien nicht prozentual noch mehr Stimmen erhalten! Ich habe meine Stimme einer Partei gegeben, die ins Europaparlament kommt, einer Partei, die sich (noch) nicht der Machtorientiertheit so weit unterworfen hat, dass sie sich selbst verrät und unglaubwürdig macht. Wenn sich das einmal ändern sollte, werde ich die Tierschützer wählen. Ihr Ziel ist auch meines.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke

 

Die Folgen der deutschen
Hegemonialpolitik

Der Wahlerfolg der rechten und eurokritischen Parteien ist vor allen eine Folge der deutschen Hegemonialpolitik. Die wirtschaftliche Dominanz der Deutschen in der Europäischen Union ist eine Folge des von der Schröder/Fischer-Regierung geschaffenen Niedriglohnsektors durch die Hartz-Gesetze. Die Subventionierung des Dienstleistungssektors ermuntert die deutschen Unternehmer, die Löhne auf ein menschenunwürdiges Niveau zu reduzieren, um die Gewinne zu steigern. Für die Nachbarländer ist diese Subventionierung eine Katastrophe.

In Frankreich hat die linke Regierung die Wahl, entweder etwas Ähnliches wie Hartz IV einzuführen oder angesichts eines großen Teils des Dienstleistungssektors, der nicht mehr konkurrenzfähig ist, alle negativen Folgen wie Firmenpleiten und Arbeitslosigkeit hinzunehmen. In Dänemark wandert ein großer Teil der fleischverarbeitenden Industrie aus Kostengründen nach Deutschland ab. Für die Dänen bedeutet das Arbeitslosigkeit. Viele Bürger befürchten den Verlust regionaler Traditionen durch ein undurchschaubares bürokratisches Europa.

Manfred Seitz („Die Linke“)

 

21 Millionen Menschen leben in sklavenähnlichen Zuständen

Offiziell sind Zwangsarbeit und Sklaverei mittlerweile in allen Ländern der Welt verboten. Aber im 21. Jahrhundert schwillt die Zahl der versklavten Kinder, Frauen und Männer wieder dramatisch an. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der Uno berichtet von 21 Millionen Menschen, die in sklavenähnlichen Verhältnissen gehalten werden. Das sind so viele, wie die Bevölkerung in Berlin und Nordrhein-Westfalen zusammen umfasst. Neben Waffen- und Drogenhandel geht es um besonders profitable, völlig unkontrollierte Geschäfte. Die Zwangsarbeit von Männern, Frauen und Kindern wirft nach Schätzungen der ILO jährlich mindestens 110 Milliarden Euro ab.

Harald BraunDabei steht die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern an der Spitze dieser Spirale. Schätzungsweise 72 Milliarden Euro pro Jahr erbeuten Schlepper, Zuhälter und Menschenhändler laut ILO allein aus dem Geschäft mit Prostitution und Pornografie. Menschen werden wie Leibeigene gehalten, schuften zu Hungerlöhnen und sind unter unzumutbaren Bedingungen untergebracht. Ihnen werden die Pässe weggenommen, sie werden mit Drogen ruhiggestellt oder bestialisch bestraft.

Über den aktuellen Bericht hinaus müssen in diesem Zusammenhang auch die Verhältnisse in vielen Sonderwirtschaftszonen der Welt angeprangert werden. Dort arbeiteten bereits 2002 rund 100 Millionen Menschen, wobei die Rechtlosigkeit der Arbeiter und die Unterdrückung von Gewerkschaften eine ähnliche Entwicklungsrichtung nehmen. Das kapitalistische Ausbeutersystem betrachtet die menschliche Arbeitskraft als Ware, mit der sich Profite scheffeln lassen. Unter dem Diktat der Internationalisierung der kapitalistischen Produktion wird das auf die Spitze getrieben.

Auch wenn laut ILO die größten Zahlen der von der ILO in ihrem Bericht erfassten Menschen in Asien mit zwölf Millionen und in Afrika mit 3,7 Millionen ermittelt werden, steigt ihre Zahl auch in Europa. Von mindestens 145.000 Zwangsarbeitern und Zwangsprostituierten in Deutschland geht die ILO aus. Die realen Zahlen liegen wegen hoher Dunkelziffern weit darüber. Genannt werden Zahlen bis zu 700.000. Anstatt sich solcher Probleme ernsthaft anzunehmen, verschärfen EU und die Bundesregierung die Asylgesetze und verbinden das mit einer demagogischen Hetze gegen „Sozialtouristen“. Aus Angst vor Abschiebung wagen viele Zwangsprostituierte oder andere Zwangsarbeiter keine Anzeige.

In einem aktuellen Gesetzesentwurf einer Staatssekretärsrunde der Regierung soll Migranten aus anderen EU-Ländern unter anderem das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche befristet werden. Für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten soll es nur dann erteilt werden, wenn begründete Aussicht auf eine Anstellung besteht. Damit werden indirekt auch Sklaverei und Zwangsarbeit gefördert, denn „Betroffene, die keine soziale Absicherung haben, müssen jeden Job akzeptieren, um über die Runden zu kommen“, so die ILO.

Lea Ackermann, Gründerin und Vorsitzende der Hilfsorganisation Solwodi, fordert schon lange mehr Schutz für die Prostituierten und Verfolgung von Menschenhändlern. Besonders empört ist sie, dass bis Mitte 2013 nur neun von 27 Mitgliedsländern der EU eine Richtlinie gegen den zunehmenden Menschenhandel und zum verbesserten Opferschutz unterschrieben haben. Damit sollten beispielsweise Zwangsprostituierte, die eine Klage wagen, vor der unmittelbaren Abschiebung bewahrt und finanziell unterstützt werden. Die Bundesregierung verweigert bis heute die Unterschrift. Schluss mit Zwangsarbeit und Zwangsprostitution! Uneingeschränktes Asylrecht für alle Unterdrückten!

Harald Braun
 
Um Solidarität mit den Angehörigen der NSU-Morde zum Ausdruck zu bringen, organisieren linke Gruppen aus der Türkei in der Arena Oberhausen am 28. Juni 2013, dem Jahrestag des Gezi-Aufstandes, ein Konzert mit der populären linken Musikgruppe „Grup Yorum“. Bei einer bundesweiten Durchsuchungswelle wurden die Hauptorganisator(inn)en des Konzertes festgenommen. Nein zu Repressionen! „Grup Yorum“ kann nicht zum Schweigen gebracht werden! Rassismus geht uns alle an!
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz