Am Aschermittwoch jährt sich ein Verbrechen: Vor zehn Jahren wurde der Entschluss zur Umsetzung der Lissabonner Strategie gefällt. Ab 13 Uhr vor der Bürgerschaft geht es den Betriebsräten des öffentlichen Dienstes darum, den fortgesetzten Personalabbau anzuprangern und zu verhindern. Der Erfolg im Vorfeld ist nicht zu verachten: Der Senat plant bereits 200 Stellenstreichungen weniger! Die Haushaltsansätze wurden aber nicht geändert. Das Geld soll anders eingespart werden. Polizei, Feuerwehr, Krankenhaus und Stadtamt sind nur einige der unterbesetzten Dienstleister! Ab 14 Uhr geht es dann um den zehnjährigen Jahrestag von Hartz IV.
Natürlich sind aber alle aufgerufen, bereits ab 13 Uhr teilzunehmen, weil eine Trennung überhaupt nicht sachgerecht ist. Mitzubringen ist alles, was Krach macht! Die Hartz-Gesetze betreffen alle Arbeitnehmer(innen). Der Arbeitsplatzverlust durch Verdichtung der Arbeitsleistung ist ein Aspekt davon. Noch nie wurden Errungenschaften der Arbeitnehmer(innen) so schnell und nachhaltig beseitigt. Noch nie wurden Lohnsenkungen und Kürzung von Zusatzleistungen so geräuschlos und nachhaltig vollzogen. Noch nie war die Lohnabwärtsentwicklung so rasant! Sie ist durch Tarifverträge nicht zu stoppen, weil Tarifbindung inzwischen fast ein Fremdwort geworden ist.
Die Bürgerschaft berät am Mittwoch über den Mindestlohn in Bremen. 8,50 Euro brutto sind aber nicht „armutsfest“, nur ein Einstieg. Auch zehn Euro brutto liegen nur knapp über der Grundsicherungsleistung und sind ebenfalls nicht „armutsfest“. Bereits die Diskussion im Vorfeld hat aufgezeigt, dass viele Arbeitnehmerinnen für weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde arbeiten. Daher ist der Mindestlohn unverzichtbar! Die Abgeordneten können den Senat auch zu einem entsprechenden Antrag im Bundesrat verpflichten. Schon die Grundsicherungsleistung ist Armut per Gesetz. Nur ein Einkommen deutlich darüber befreit von den Sorgen eines Lebens an der Existenzgrenze. Weg mit den Hartz Gesetzen! Nur durch ein auskömmliches Einkommen und Lebensumstände mit Perspektive ist das Militär uninteressant!
2. Zum zehnten Jahrestag auch etwas über Geldverschwendung durch die Umsetzung von Hartz IV: Die Argen (in Bremen Bagis, jetzt Jobcenter) wurden geprüft. Der Prüfbericht wurde dem Bundestag im November 2011 vorgelegt, er heißt „Dritter Bericht über die Prüftätigkeit im Rahmen der Ausübung der Fachaufsicht über die Bundesagentur durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rechtskreis SGB II von Mai 2009 bis Dezember 2010“. Harald Thomé hat diese Information als „sehr interessant“ kommentiert. Auf der zweiten Seite der Zusammenfassung steht zum Prüfbericht 2009: „Die Bundesagentur musste rund 415.000 Euro überhöht abgerechnete Personalkosten sowie 81.700 Euro überzahlte Versorgungszuschläge für Vorsitzende der Geschäftsführungen der Bundesagentur an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erstatten.“
Der Bundesrechnungshof hatte die Vergütung der Geschäftsführer als unangemessen und überhöht beanstandet. Die Bundesagentur für Arbeit hat diese Luxusgehälter ausgezahlt und wurde hier zur Erstattung verpflichtet. Das war aber nur die Spitze vom Eisberg. „Spiegel Online“ berichtete im Juni 2010: „Die Bundesagentur für Arbeit ist ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten. Der Verdacht: Untreue. Gleich hundertfach sollen Posten ohne Ausschreibung besetzt worden sein – die Gehälter waren angeblich deutlich überhöht.“ Mit der anstehenden Änderung des SGB III werden diese Vergütungen legalisiert. Ein Unrechtsbewusstsein hat die Bundesagentur für Arbeit nicht entwickelt. Auch die Geschäftsführer der Jobcenter haben jetzt wesentlich höhere Einkünfte.
Im Prüfbericht steht auf Seite 2 unten zur Nachprüfung der Widerspruchsbearbeitung: „Im September 2007 betrug die Zahl der unerledigten Widersprüche mit einer Bearbeitungsdauer von über drei Monaten fast 170.000. Damit waren fast 60 Prozent aller unerledigten Widersprüche älter als drei Monate. Aus diesem Grund wurde die Widerspruchsbearbeitung Ende 2007, Anfang 2008 erstmals geprüft. Im Juni 2009 gab es bundesweit noch 110.137 unerledigte Widersprüche älter als drei Monate, die Anlass für eine Wiederholungsprüfung im August 2009 waren. Das von der Zentrale der Bundesagentur gesetzte Ziel, Widersprüche im Regelfall innerhalb von drei Monaten, die übrigen Widersprüche innerhalb von sechs Monaten abschließend zu erledigen, wurde von keiner der geprüften Arbeitsagenturen erreicht.“
Diese Prüfung war bestimmt gut gemeint. Sie erbrachte eine Bestätigung der Langsamkeit. Die Bundesagentur für Arbeit hat reagiert, und zwar wie? Sie ordnet die bessere Umsetzung ihrer im Prüfbericht erwähnten Anweisung an, nämlich die Begrenzung der Stattgabe auf 30 Prozent aller neu eingehenden Widersprüche an! Siehe 328. Bremer Montagsdemo, Punkt 2 meines Beitrages: „Die vielen Klagen zum Rechtskreis des SGB II haben ihre Ursache auch in dieser Anweisung der Bundesagentur für Arbeit zur „Gewährleistung der Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung“: „Die Qualität der Aufgabenerledigung in der Sachbearbeitung und in den Widerspruchsstellen ist weiterhin unzureichend. Der gesetzmäßige Zustand bei der Dauer von Widerspruchsverfahren ist bis zum 30. Juni 2009 herzustellen. Der vermeidbare Anteil an Stattgaben von Widersprüchen ist ab 2009 auf 30 Prozent bei neu eingehenden Widersprüchen zu reduzieren. Es sind Aktivitäten hinsichtlich der Widersprüche und Klagen in Bezug auf kommunale Aufgaben notwendig. Die Regionaldirektionen berichten im Rahmen der Fachdialoge 2009.“
70 Prozent aller Widersprüche abzulehnen, beschleunigt die Bearbeitungszeit! Die Sozialgerichte müssen dies ausbaden. Die Prozessvertreter der Jobcenter sind jetzt überlastet. Zur Unterstützung werden Anwaltskanzleien mit der Prozessvertretung beauftragt. So geht Geldverschwendung! Auch die anderen Prüfergebnisse sind sehr interessant. Die dadurch aufgedeckte Geldverschwendung der Sachbearbeiter insbesondere rund um die Arbeitsgelegenheiten lässt sich nur erahnen! Auf Seite 5 wird auf die Zielvereinbarungen und die Entwicklung eingegangen. Per Zielvereinbarung werden unter anderem die Einsparungen der Jobcenter festgelegt – Einsparungen, die nur durch Minderausgaben bei den gesetzlichen Leistungen zu erreichen sind? Wer sich über seine nicht hilfreiche Eingliederungsvereinbarung wundert, wird hier ebenfalls fündig. Nicht eine dieser Vereinbarungen erfüllte alle Kriterien!
3. Hartz IV macht krank! Das wird von vielen behauptet und auch so erlebt. Ist das gewollt? Die Arbeitsvermittlung durch Bundesagentur für Arbeit und Jobcenter sei leistungsfähig und habe eine hohe Vermittlungsquote, so wird es immer verbreitet. Doch im Jahr 2011 war die Quote der „Vermittlung in Krankheit“ bei den Langzeitarbeitslosen mit Abstand am höchsten: Hierauf entfielen 35 Prozent aller Abgänge. Auch von den Kurzzeitarbeitslosen wurden 21,4 Prozent in die Krankheit „abgegeben“. Dies ist der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linkspartei zu entnehmen.
Von der damaligen Bagis erfuhren wir, es gebe keine „Handlungsanweisungen für den Umgang mit Kunden“. Harald Thomé hat jetzt ein Handbuch „Neukundenprozess“ aus dem Jahr 2010 veröffentlicht. Damit ist diese Aussage der Bagis (jetzt Jobcenter) widerlegt. Er schreibt dazu: „Im Bundesagentur-Deutsch heißt das ‚qualifizierte Antragsausgabe‘, die nur das Ziel hat, mit ‚deutscher Gründlichkeit‘ eine hohe Hartz IV-Vermeidungsquote zu erreichen, also möglichst viele im Vorfeld von der Antragstellung abschrecken. Wer dieses Drehbuch liest, wird das eine oder andere selbst Erlebte oder in der Beratung beziehungsweise Kanzlei Berichtete besser verstehen.“
Der erste Satz des Gesprächsleitfadens auf Seite 57 dieses Handbuches der Entrechtung liest sich gut: „Die qualifizierte Antragsausgabe darf keinesfalls dazu dienen, dem Kunden eine Antragstellung ‚ auszureden‘ oder bei – auch berechtigten – Zweifeln an der Bedürftigkeit die Ausgabe der Antragsunterlagen zu verweigern.“ Der zweite Satz baut bereits Hindernisse auf. Das Wort „nur“ zeigt die Bürde der Leistungsgewährung: „Leistungen der Grundsicherung (ALG II) werden nur bei vorliegender Hilfebedürftigkeit erbracht. Nur wenn der Lebensunterhalt...“ Ja, so ist es mit dem Jobcenter, aber Bangemachen gilt nicht!
Vorbereitung ist das halbe Leben. Wer erwerbslos ist und Arbeitslosengeld I erhält, sollte sich rechtzeitig über die Tücken des ALG II informieren und entsprechend vorbereiten. Zum Beispiel wird eine Lebensversicherung nur dann als Altersvorsorge akzeptiert, wenn eine vorzeitige Auszahlung und auch Beleihung ausgeschlossen ist. Wer selbständig ist, muss berücksichtigen, dass einige Abweichungen zum Steuerrecht bestehen. Wer Probleme sieht, sollte sich Unterstützung mitnehmen. Wie dies alles geht? Wir gehen mit! Wer ein geringes Einkommen hat, kann aufstockendes ALG II beantragen, sogar wenn das Einkommen etwas höher ist als die bisherige ALG-II-Zahlung. Ursache sind die Freibeträge, siehe 361. Bremer Montagsdemo.
Der vorstehende Leitfaden geht von anzurechnendem Einkommen aus. Ein Hinweis auf die Freibeträge steht hier nicht, siehe Erläuterung zu Punkt 4 in der Anlage „Gesprächsleitfaden“, wo es heißt: „Einkommen sind Einnahmen in Geld und Geldeswert, die laufend (zum Beispiel Arbeitsentgelt, Rente) oder auch einmalig (zum Beispiel Steuererstattung, Zinsen) zufließen. Einkommensnachweise bilden die Grundlage der Prüfung der Hilfebedürftigkeit, anzurechnendes Einkommen mindert den Anspruch. Die Prüfung, welche Einkommensarten gegebenenfalls anrechnungsfrei sind, obliegt dem zuständigen Träger. Hierbei kann die Prüfung nur anhand der eingereichten Unterlagen und Nachweise erfolgen. Sofern Absetzungsbeträge oder Werbungskosten geltend gemacht werden, sind diese Ausgaben nachzuweisen.“ Einfach mal nachlesen und sacken lassen!
Die nicht betroffene Öffentlichkeit erhält ein falsches Bild über die Situation der Erwerbslosen, siehe 285. Bremer Montagsdemo. Einfach mal reinlesen, dann werden Sie verstehen, warum wir nicht ans Aufhören denken! Darum Montagsdemo, Kopf zeigen: Ich bin nicht einverstanden! Ich will die Zukunft lebenswert gestalten!
1. Immer mehr Rentner kehren aus dem Ruhestand zurück und suchen sich eine neue Arbeit. So arbeitet der 73-jährige Klaus Beckert an drei Tagen in seinem alten Beruf als gelernter Werkzeugbauer und Maschinenschlosser. Dabei gehe es dem Ruheständler nicht ums Geld, sondern darum, eine Beschäftigung zu haben, die ihm auch nach 40 Jahren noch Freude bereitete. Nach einer wahrscheinlich nicht repräsentativen Umfrage der „Familienunternehmer und jungen Unternehmer“ beschäftigen fast 40 Prozent der befragten Betriebe Mitarbeiter, die älter als 40 Jahre alt sind; der Mittelstand sei „Vorreiter“ bei der Beschäftigung Älterer. Nach einer abenteuerlichen Theorie drohe wegen einer „Überalterung“ der Gesellschaft ein „Fachkräftemangel“, der nun die Wirtschaft zum Umdenken zwinge, denn bei vielen Großunternehmen seien infolge früherer Frühverrentungsprogramme heute keine älteren Mitarbeiter mehr zu finden.
Aber niemand kommt auf die Idee, die vorhandenen älteren arbeitslosen und kompetenten Facharbeiter einzustellen – denen wird lieber pauschal „Bildungsferne“ attestiert. Während jedes zweite Unternehmen hierzulande überhaupt keine Arbeitnehmer beschäftigen würde, die älter als 50 sind, liege in fast zwei Dritteln der befragten Familienbetriebe der Anteil der Beschäftigten im Alter von 55 bis 65 Jahren bei über fünf Prozent der Gesamtbelegschaft. Bei 13 Prozent der Unternehmen stellten die Mitarbeiter dieser Altersgruppe sogar 20 Prozent der gesamten Belegschaft. Nach dieser Logik liegt der Schluss nahe, dass angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland länger gearbeitet werden müsse. Die Rente mit 67 sei zwar ein „richtiger Schritt“, doch wären „flexiblere Regelungen“ langfristig sinnvoller als eine starre Altersgrenze.
Tja, müssen die Rentner arbeiten, oder wollen sie das nur? Was für eine Frage, wo es doch ausreichend gut bezahlte Arbeit für alle gibt und infolgedessen eine ebenso üppige Rente, von der locker alle Lebenshaltungskosten und darüber hinaus noch Luxusgüter angeschafft werden können! Bei diesem Loblied auf die Familienbetriebe: Sind das nicht Unternehmen, die nur sehr bescheidene Löhne zahlen? Will uns die „Welt“ beweisen, dass auch „Alte“ noch gebraucht werden, um sich nicht mit der immer mehr anwachsenden Altersarmut befassen zu müssen? Soll in Zukunft jede(r) das Gefühl haben, bis zur Bahre malochen zu müssen, um gesellschaftliche Akzeptanz zu finden? Zählen neuerdings Mitarbeiter, die älter als 40 Jahre alt sind, bereits zu den Rentnern?
Wer mit seiner Rente genug zum Leben bekommt, kann sich ja auch außerhalb der Erwerbstätigkeit gesellschaftliche Anerkennung durch ehrenamtliche Arbeit oder Betreuung der Enkelkinder holen, wenn jemand tatsächlich nur aus Freude an der Arbeit tätig werden möchte. Aber in den kalten Zeiten der Verfolgungsbetreuung durch die menschenverachtenden Hartz-Gesetze so zu tun, als wäre Erwerbsarbeit, von der es sich befriedigend und auskömmlich leben ließe, in Hülle und Fülle für alle vorhanden, die arbeiten möchten, ist nichts weiter als absolute irreführende Manipulation!
2. Viele Griechen sind nicht gut auf Deutschland zu sprechen. Sie werfen Berlin vor, ihr Land durch harte Sparauflagen kaputtzumachen und haben meiner Meinung nach absolut Recht damit. Finanzminister Schäuble mimt zwar den Verständnisvollen, doch habe Griechenland lange „über seine Verhältnisse“ gelebt. Selbstredend hält er das neue griechische Sparpaket für „alternativlos“ und prangert an, dass der Mindestlohn bislang über dem Durchschnitt der Euro-Staaten gelegen habe. Jetzt gehe es darum, die griechische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu machen.
So wie Schäuble sich hier auf die Kürzungsorgie einschießt, kann ich mir lebhaft vorstellen, dass er auch in Deutschland denselben Sparkurs fordern wird. Wenn er allen Ernstes einen angeblich zu hohen Mindestlohn in Griechenland für das Fiasko mitverantwortlich macht, soll dies vermutlich als weiteres Argument gegen die Einführung eines deutschen Mindestlohnes dienen. Wo kämen wir denn da hin mit unseren Forderungen, dass mensch selbstredend den eigenen Lebensunterhalt auskömmlich von der Arbeit bestreiten können muss, ohne sich gleichzeitig zusätzlich wie ein Sklave den Flop-, Mob- oder (No-)Job-Centern unterwerfen zu müssen und sich von ihnen demütigend und entmündigend behandeln zu lassen.
Ich würde mich als Griechin auch gegen unglaubliche Einschnitte in die Masseneinkommen bei wachsender Steuerbelastung, steigenden Preisen und dramatisch zunehmender Arbeitslosigkeit zur Wehr setzen. Warum soll es den Menschen weiter immer nur schlechter gehen, obwohl gerade die Bezieher geringer Einkommen und die Rentner überhaupt nicht zur Verantwortung zu ziehen sind! Die Drosselung der Masseneinkommen kann sich wohl nur in einem „Minuswachstum“ niederschlagen, wie es sich seit Beginn der Krise auf volle 16 Prozent summierte. Deswegen sind die neuen Sparbeschlüsse die sture Fortschreibung einer „tödlichen Therapie“, die den Abschwung noch weiter beschleunigen wird.
Nun will Wolfgang Schäuble sich dafür einsetzen, dass Deutschland schon 2014 ohne neue Schulden auskommt. Dafür soll der Bund nur noch rund acht Milliarden Euro neue Schulden machen. Für 2013 strebt der Finanzminister eine Nettokreditaufnahme von rund 15 Milliarden Euro an. Um dieses Ziel zu erreichen, will er den Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds der Krankenkassen um zwei Milliarden Euro kürzen, den Zuschuss des Bundes zur Rentenversicherung in der gleichen Größenordnung kappen und bei der Arbeitslosenversicherung Einsparungen im Umfang von einigen hundert Millionen Euro vornehmen. Auch das Elterngeld soll gedeckelt werden.
Auf Neusprech bedeutet „Neuverschuldung im Eiltempo kappen“ doch nichts anderes als „im Eilschritt weiter die Reste des Sozialstaates abbauen“, auf dass mit vollen Händen und noch großzügiger von unten nach oben verteilt wird! Dabei dachte ich eigentlich, dass ein Bundesminister zum Wohle des deutschen Volkes handelt und für Gerechtigkeit gegenüber jedermann steht, worauf er doch einen Eid geleistet hat. Warum holt er die zehn Milliarden nicht bei den Finanzunternehmen, die den Staatshaushalt in den letzten Jahren über 500 Milliarden Euro gekostet haben? Das ist der gleiche Murks wie schon in Griechenland!
3. Am Sonntagabend wurde nun leider Joachim Gauck als Kandidat für den zurzeit vakanten Posten des Bundespräsidenten ins Rampenlicht befördert, zuletzt stimmte sogar die Kanzlerin zu. 54 Prozent der Bundesbürger sollen nach einer Umfrage damit einverstanden sein, dass er Wulffs Nachfolger wird. Ich kann und will aber nicht vergessen, dass Gauck die Bürgerinnen und Bürger, die gegen das Menschenverelendungsgesetzeswerk Hartz IV demonstrierten, als „töricht und geschichtsvergessen“ bezeichnete, weil sie schlicht den Begriff der Montagsdemonstrationen wiederaufleben ließen. Kann so jemand sich in das Schicksal derjenigen einfühlen, die keinen Arbeitsplatz abbekommen haben und deswegen gesellschaftlich ausgeschlossen sind, herumgestoßen und gedemütigt werden?
Diese Frage stelle ich bewusst, weil Gauck die Sozialstaatsverpflichtung der Bundesrepublik gegenüber den Hilfsbedürftigen mit den Worten kritisierte, dass er diese „Reduzierung des Lebensglücks auf Wohlfahrt und Wohlstand“ nicht für „kindlich“ halte, sondern für „kindisch“. Gauck belegte die humanen Grundmotive der menschenwürdigen Existenzsicherung für alle Menschen in der Bundesrepublik mit dem Verdacht, dass wir uns alle „nicht gerne die Frage stellen, ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen“. Kennt Gauck unser Grundgesetz gar nicht, oder will er es nicht angewendet wissen? Außerdem feierte er die Zerstörung unseres Sozialstaats durch Gerhard Schröder, der einst die Frage aufwarf, wie viel Fürsorge sich das Land noch „leisten“ könne. Solche „mutigen Versuche“ bräuchten wir heute immer wieder.
Das hört sich in der Tat kaum nach einer mutigen Handlung an, sondern nach Brutalität gegenüber den finanziell Schwächsten hier im Land! Solche Zitate klingen so, als wolle er in Wirklichkeit die Misere und die Spaltung in der Bundesrepublik vertiefen, statt sich für die Ärmsten der Armen in unserem Land einzusetzen. Aber wenn ich mir ansehe, wie sozial die Spezialdemokraten sind oder wie christlich die „Christdemokraten“, dann kriecht mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter! Joachim Gauck passt gut zu diesen Politikern, aber kann er so ein würdiger Vertreter des gesamten deutschen Volkes werden? Ist er nun der „Kandidat der Herzen“ oder eher ein Theologe der Herzlosigkeit? Ich kann mich von ihm nicht vertreten fühlen! In einer Hinsicht übertrifft Gauck Wulff, weil er aus Sicht der Bundesregierung bereits vor der Abstimmung nur zweite Wahl ist.
Das fordert die EU in ihrem Strategiepapier vom 16. Februar 2012. Sie will das Renteneintrittsalter künftig an die steigende Lebenserwartung koppeln, „um Europas Sozialsysteme vor dem Kollaps zu bewahren“, so EU-Sozialkommissar Andor. Das „Max-Planck-Institut“ liefert bereits entsprechende Zahlen: Im Jahr 2050 dürfen die Bundesbürger erst mit 72 in Rente gehen („Weser-Kurier“ vom 17. Februar 2012). Ja, wir werden älter, und das ist gut so! Aber Tatsache ist, dass man bei der heutigen Arbeitshetze in den Betrieben und Büros in aller Regel nicht bis 67 arbeiten kann.
Heute haben nur 8,3 Prozent der Männer und 3,4 Prozent der Frauen mit 64 Jahren eine sozialversicherungspflichtige Arbeit. Aus der ganzen Altersgruppe von 60 bis 64 Jahren waren im März 2011 gerade noch 26,4 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Bereits bei der Altersgrenze von 65 musste 2011 jede(r) Zweite durch den Zwang zur Frührente massive Einbußen in Kauf nehmen. Wieso wird eigentlich das Renteneintrittsalter nicht an die steigende Produktivität gekoppelt? Wenn uns die geschaffen Werte zugute kämen, könnten wir nämlich viel früher in Rente gehen!
Die Zahl der Rentner und Kinder, die nicht erwerbstätig sind, steigt pro Jahr um 0,8 Prozent, während die Produktivität der Beschäftigten um das Zwei- bis Dreifache steigt: Heute braucht man zu derselben Produktion, die vor 20 Jahren 1.000 Industriearbeiter geleistet haben, nur noch 438. Das Niveau der gesetzlichen Rente wird ohnehin planmäßig abgesenkt, auf nur noch 40 Prozent des letzten Nettoverdienstes. Trotz sinkendem Lohnniveau steigen die Rücklagen der Rentenversicherungen – unter anderem, weil immer weniger Reha-Maßnahmen genehmigt werden. Man braucht 45 Arbeitsjahre bei mindestens zehn Euro Stundenlohn, um auch nur eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu bekommen!
Die Rente mit 67 ist ein gigantisches Rentenkürzungsprogramm. Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangt, dass sie überall in Europa durchgesetzt wird. In Griechenland, Spanien, Portugal und Italien gibt es erbitterten Widerstand dagegen. Im gemeinsamen Kampf in Europa muss die Rente mit 67 zu Fall gebracht werden! Wir brauchen auf Kosten der Milliardengewinne des internationalen Finanzkapitals eine Herabsetzung des Rentenalters auf 60 Jahre für Männer, auf 55 Jahre für Frauen bei vollem Rentenausgleich, dazu die Festsetzung einer staatlichen Mindestrente unabhängig von der persönlichen Berufstätigkeit und weiterhin die Einbeziehung der alten, kranken und behinderten Menschen in das gesellschaftliche Leben sowie die volle Übernahme ihrer Pflegekosten!
Verlängert wurde übrigens das Bremer-Stadtmusikanten-Stück „Alt, arm, arbeitslos“ am Bremer Theater. Es macht Mut, sich gemeinsam zu wehren, und regt an, über gesellschaftliche Alternativen zu diskutieren. Premiere war am 15. Januar 2012. Die nächsten Aufführungen sind am 24. Februar, 2. und 10. März, 12. April sowie 4. und 16. Mai 2012 (jeweils 19:30 Uhr). Regisseur ist Volker Lösch, zusammen mit Schauspieler Walter Sittler Erfinder des „Schwabenstreichs“ als Protestform gegen „Stuttgart 21“. Vergünstigten Eintritt zum Preis von drei Euro gibt es für Arbeitslose mit der „Grünen Karte“, dem „Kulturticket“ des Jobcenters. Die Eintrittskarte berechtigt drei Stunden vor und nach der Aufführung zur Nutzung von Bus und Straßenbahn.
Lieber Winfried Kretschmann, liebe Grüne in der Landesregierung, wir haben oft mit euch zusammen hier gestanden, mit euch gegen „Stuttgart 21“ gekämpft, auf dem Schlossplatz, vor dem Bahnhof, am Nordflügel, im Schlosspark, und immer war uns allen unausgesprochen klar, dass es um mehr geht als um das Verhindern des sinnlosen Projekts „S21“. Es ging uns um eine verantwortungsvolle soziale, politische und ökonomische Gestaltung von Zukunft, um die Vision einer anderen Politikausübung, um eine andere Sicht auf Gesellschaft, die sich nicht ausschließlich an Materiellem orientiert.
Wir wollten gemeinsam die Strukturen unserer repräsentativen Demokratie verändern, und es ging uns konkret um das zukünftige Gesicht Stuttgarts, um einen neuen, fairen und intelligenten Politikstil, und als wir – die Widerstandsbewegung gegen „S21“, die kritisch-aktive Bürgerschaft dieser Stadt und dieses Landes – euch mit an die Macht gebracht haben, schien vielen unter uns ein wichtiger Schritt in eine veränderte Republik getan.
Wir müssen nun erkennen, dass wir uns getäuscht haben. Seit Mittwochmorgen werden hinter Absperrzäunen mit Sichtschutz Stuttgarts alte Bäume gefällt. Die Verantwortlichen für dieses unnötige Zerstörungswerk sind immer wieder benannt worden. Dass Sie, Winfried Kretschmann, nun in einer Reihe mit Mappus, Grube, Ramsauer und anderen Technokraten gestellt werden, das ist folgerichtig und konsequent, und das haben Sie sich auch selber zuzuschreiben!
Wir Stuttgarter(innen) müssen nun hinnehmen, dass der Schlosspark mit seinem über hundert Jahre altem Baumbestand mit der Billigung und Förderung einer grün geführten Landesregierung abgeholzt wird. Wir müssen hinnehmen, dass diese sinnlose Aktion, diese abermalig reine Machtdemonstration, von einem grünen Ministerpräsidenten nicht verhindert worden ist. Wir müssen hinnehmen, dass Sie, Herr Kretschmann, das Argumentieren, das Kritisieren und das Kämpfen, dass Sie, was „S21“ betrifft, Ihre politische Arbeit eingestellt haben.
Was für eine Riesenenttäuschung, was für ein Desaster für uns, für Stuttgart, für die politische Kultur dieses Landes und am meisten für euch, liebe Grüne in der Landesregierung! Ihr habt in den letzten Wochen mehrmalig bewiesen, dass ihr nicht dazu in der Lage seid, die Verantwortung zu tragen, die ihr nun als Regierende habt, und weit schlimmer: Ihr habt mit eurem Nichtverhalten, mit eurer Untätigkeit, mit eurer Ignoranz wichtigen Argumenten gegenüber ausgerechnet als Grüne ein Paradebeispiel dafür geschaffen, dass Parteienpolitik immer wirkungsloser wird, dass die Krise der parlamentarischen Demokratie auch eure, die Krise der Grünen ist.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht mir nicht um ein allgemeines Grünen-Bashing, um ein billiges Affektabladen „bei denen da oben“. Mir geht es auch nicht um eine pauschale Diskreditierung einzelner Personen. Mir geht es um die präzise Aufarbeitung dessen, was war, um das genaue Beschreiben dessen, was ist, und um das Skizzieren dessen, was sein sollte. Die SPD muss man nicht mehr kritisieren. Ihre Haltung zu „S21“ ist indiskutabel, und auch über die zerstörerische Rolle der Bahn ist alles gesagt worden.
Lieber Winfried Kretschmann, wir haben Ende des letzten Jahres einen offenen Brief an Sie verfasst, auf den Sie im Januar geantwortet haben. Aufgrund unseres zweiten Antwortbriefes haben Sie uns am vorletzten Donnerstag zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Ich selber war nicht dabei, weiß aber um genauen Verlauf der Debatte. Sie haben mit der Frage eröffnet, was man denn jetzt noch tun könne, nachdem durch die Volksabstimmung alles entschieden worden sei. Gebetsmühlenartig wiederholten Sie, der Bahnhof müsse gebaut werden. Wer das nicht akzeptiere, sei kein Demokrat, und wenn Sie als Ministerpräsident das nicht durchsetzen, verstoßen Sie gegen das Recht und Ihren Amtseid.
Dies ist auch exakt die Position, die man am häufigsten in der Öffentlichkeit hört: Wir haben die Volksabstimmung verloren, nun muss halt gebaut werden. Warum, Herr Ministerpräsident, stellen Sie das Ergebnis des Volksentscheids nicht objektiv dar? Am 27. November fand einfach ein Gesetz keine Mehrheit, ein Gesetz, um die Kofinanzierung von „S21“ durch das Land zu beenden, nicht mehr und nicht weniger. Politisch kann man das als ein mehrheitliches Ja zu „S21“ deuten, doch das darf nicht, wie Sie es, Herr Kretschmann, derzeit tun, als ein juristisch bindendes Votum, „S21“ jetzt aktiv voranzutreiben, interpretiert werden. Genau das ist es nämlich nicht! Die sogenannte Volksabstimmung hat, da das Quorum verfehlt wurde, gar nichts bewirkt. Die rechtliche Situation derzeit ist die gleiche wie vor der Volksabstimmung, und das müsste von Ihnen kommuniziert werden! Aus dem Ergebnis der Volksabstimmung leitet sich keine juristische Verpflichtung ab, „Stuttgart 21“ zu bauen!
Lieber Winfried Kretschmann, hören Sie auf ,sich zum Ober- und Chefdemokraten zu stilisieren, hören Sie auf, mit diesem undifferenzierten, mantraartigen Herunterbeten des ewig gleichen Satzes, hören Sie auf, nur noch in Perikles-, Sokrates-, Arendt- und Brecht-Zitaten zu kommunizieren, hören Sie auf, die Volksabstimmung in dieser selbstgefälligen Weise zu überhöhen, und hören Sie auf, den Gezeichneten zu spielen, der gegen seine inneren Überzeugungen Volkes Wille umsetzen muss! Das ist Schmierenkomödiantik, unglaubwürdiges schlechtes Theater und hat mit kritischem Begleiten nichts, aber auch gar nichts zu tun!
Herr Ministerpräsident, wenn Sie die von Ihnen mitorganisierte sogenannte Volksabstimmung wirklich ernst nehmen würden, hätten Sie das Projekt längst gestoppt! Sie müssen nämlich gar keine Wunder bewirken. Sie sollen einfach die Interventionsmöglichkeiten, die sich aus den Widersprüchen und Fehlern des Projekts ergeben, nutzen, um es zu stoppen! Deswegen haben wir, hat ein Großteil dieser Bürgerbewegung Sie gewählt! Ihre grün geführte Landesregierung hat aber die vielen Chancen, den Widerstand gegen „S21“ zu stärken, nicht genutzt und die Bevölkerung völlig unzureichend über das Zerstörungspotential von „S21“ informiert.
Sie informieren zum Beispiel bis heute nicht darüber, dass wenige Wochen vor der Volksabstimmung dokumentiert wurde: „Stuttgart 21“ bringt keine Erweiterung, sondern eine Reduktion der Bahnhofskapazität. Um dies zu verschleiern, wurde der Stresstest vom Juli 2011 systematisch manipuliert. Die Tatsache der Reduktion der Bahnhofskapazität war der Bevölkerung damals aber nicht bekannt! Warum macht das grün geführte Verkehrsministerium das nicht mit aller Kraft deutlich?
Wenn sich das Volk, wie Sie ja nicht müde werden zu behaupten, Herr Kretschmann, für den Bau von „Stuttgart 21“ entschieden hat, dann stellt sich doch die Frage: Worüber genau hat denn das Volk entschieden? Über die ursprüngliche Fassung von „Stuttgart 21“ oder nicht eher über das von Geißler als Ergebnis der „Schlichtung“ propagierte und von den Beteiligten akzeptierte „Stuttgart 21 plus“? Das „S21 plus“ übrigens, mit dem die CDU im Vorfeld der Volksabstimmung massiv geworben hat!
Die durch Baumfällungen geschaffenen vollendeten Tatsachen stellen einen eklatanten Verstoß gegen das auch von der Bahn ausdrücklich akzeptierte Schlichtungsergebnis „Stuttgart 21 plus“ dar! Sie, Herr Kretschmann, haben aber die Verantwortung dafür, dass alle Beteiligten das Schlichtungsergebnis ohne Wenn und Aber realisieren – das heißt, dass Sie die Baumfällungen hätten verhindern müssen! Dass Sie das nicht getan haben, ist ein schwerer Schlag gegen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger auf die Einhaltung gegebener Zusagen im Rechtsstaat. Es ist die Aufkündigung jeglicher Bürgerbeteiligung, da Sie, Winfried Kretschmann, damit zeigen, dass öffentlich verhandelte Kompromisse wirkungslos sind und nur so lange zitiert werden, bis sie den Parteien im Wege stehen!
Weiterhin haben Sie die Steilvorlage, dass in den Akten des Verkehrsministeriums gerichtsfeste Belege dafür gefunden wurden, dass bereits die Oettinger-Regierung wusste, dass die realen „S21“-Kosten auf 6,5 Milliarden Euro ansteigen dürften, und diese Erkenntnis bewusst verschwieg, nicht genutzt. Die Landesregierung, das Verkehrsministerium wurden nicht aktiv. Es gab keine Versuche, daraus auf der juristischen Ebene Kapital zu schlagen. Das Thema tauchte auch in der Info-Broschüre der Landesregierung schlicht nicht auf!
Liebe Grünen in der Landesregierung, wie könnt ihr Bäume fällen und ein Loch graben lassen mit dem Wissen, dass der Bahnvorstand erklärt hat, bei Überschreitung der 4,5-Milliarden-Grenze werde das Projekt beendet, und dem gleichzeitigen Wissen, dass die Kostengrenze hundertprozentig sicher überschritten wird? Das Projekt „S21“ wird jetzt schon absehbar irgendwann beendet, und ihr lasst zu, dass weite Teile der Stadt ab- und aufgerissen werden!
Lieber Herr Ministerpräsident, im Februar 2011 haben Sie persönlich als Mitglied des Landtags in einem Offenen Brief an Rüdiger Grube verlangt, keine neuen Fakten zu schaffen, bevor nicht alle relevanten Bauabschnitte planfestgestellt sein würden. Im Koalitionsvertrag vom Mai 2011 ist festgehalten, dass die Landesregierung darauf drängt, dass die Bahn „unmittelbar nach dem Stresstest“ alle Unterlagen für eine Planfeststellung auf den bisher nicht planfestgestellten Abschnitten einreicht. Die Folgen sind bekannt: Die Bahn reichte bis heute nichts ein. Eine Planfeststellung für zentrale Bauabschnitte wie auf den Fildern gibt es schon gar nicht. Dennoch unterstützten Sie, Herr Kretschmann, und Ihre Landesregierung die aktuelle Politik des Faktenschaffens durch die Bahn!
Wie wollen Sie mit einem nicht funktionierenden Grundwassermanagement Baufortschritte erzielen, ohne dass die Baugrube sofort mit Grundwasser vollläuft? Auch das wäre für Sie ein nachvollziehbares Argument gewesen, die völlig nutzlosen Baumfällungen zu verhindern! Wie wollen Sie sich denn an einem Projekt finanziell beteiligen, das in wesentlichen Teilen, in technischer wie auch in finanzieller Hinsicht, ungeklärt ist? Das bekommen Sie weder mit einem Wunder noch mit der Heiligen Maria hin!
Liebe grüne Landesregierung, nun ist ein Jahr vergangen, und die politische Kultur im Land hat leider nicht erkennbar an Qualität dazu gewonnen, und man fragt sich ernüchtert und etwas verschämt ob der eigenen Naivitiät: Wollt ausgerechnet ihr Grünen für den Untergang des Traums verantwortlich sein, dass Politik auch unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen stattfinden kann, dass Politik eine Kraft darstellen kann, die in Vertretung der Bürger eine Welt erschafft, in der wir alle zukünftig leben möchten?
Lieber Winfried Kretschmann, wir fordern Sie hiermit auf, gemäß dem geleisteten Amtseid, wonach „Schaden vom Volk zu wenden“ ist, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um das zerstörerische Werk der Deutschen Bahn AG zu stoppen! Wir erwarten von Ihnen, dass Sie Ihre Verantwortung als Ministerpräsident für das Wohl des Landes Baden-Württemberg in Bezug auf das Projekt „Stuttgart 21“ wahr- und ernst nehmen, die angesprochen Fragen und Problemkomplexe baldmöglichst klären und im Besonderen keine Bautätigkeiten zulassen, die nicht-rückholbare Tatsachen schaffen! Wenn Sie mit Ihrer Partei hinter die Ergebnisse der Schlichtung zurückgehen, dann machen Sie übrigens etwas Ähnliches wie „Steuerlügen“ oder andere gebrochene Wahlversprechen, und das werden Sie bei den nächsten Wahlen natürlich deutlich zu spüren bekommen!
Liebe Mitglieder der Grünen, ich weiß natürlich, dass es viele in eurer Partei gibt, die es derzeit innerlich zerreißt. Ich weiß dass der Kretschmann-Kurs vielen von euch missfällt und dass die Partei widersprüchlicher besetzt ist, als es sich nach außen darstellt. Aber es hilft nichts, man nimmt euch über Kretschmann derzeit als Ganzes wahr: als passive, angepasste, unkritische, müde, visionslose, machttaktisch agierende und handlungsunfähige Partei, und deshalb müsst ihr Grünen, die ihr nicht der Meinung seid, dass mit der Volksabstimmung „Stuttgart 21“ politisch nicht mehr zu stoppen sei, dann müssen diejenigen unter euch, die sich nicht aus der Verantwortung stehlen möchten, jetzt handeln! Nehmt euch Herrn Kretschmann zur Brust, werdet endlich wach und eurer Verantwortung gerecht!
Der politische Widerstand gegen „S21“ muss fortgesetzt werden. Das gilt für uns, für die Widerstandsbewegung gegen „S21“, das gilt aber vor allem für diejenigen, die die politische Macht haben, für die Grünen als führende Regierungspartei, für den grünen Verkehrsminister und für den grünen Ministerpräsidenten. Winfried Kretschmann und führende Grüne sagen: „Stuttgart 21“ kann politisch nicht mehr gestoppt werden. Sie bieten als einzige Hoffnung an, auf die inneren „Mängel“ und „Planungsfehler“ von „S21“ zu setzen. Wir sagen: Das ist ein Fehler, wir müssen konkret weiterarbeiten, und für den Widerstand gegen „Stuttgart 21“ gibt es fünf Schwerpunkte, die vor allem von euch Grünen angegangen werden müssen.
Erstens: Das Ergebnis des Volksentscheids muss objektiv dargestellt werden. Zweitens: Die Fach- und Sachargumente gegen „S21“ müssen weiter offensiv vorgetragen und immer wieder neu konkretisiert werden, zum Beispiel bezüglich des Grundwassermanagements. Drittens: Es muss dagegen vorgegangen werden, dass „Stuttgart 21 plus“ entgegen der Schlichtungsvereinbarungen nicht stattfindet und dass die Kosten explodieren. Die Betreiber von „S21“ haben die Geschäftsgrundlage der Volksabstimmung verlassen. Sie haben betrogen, und das ist juristisch anfechtbar, und zwar mit beträchtlichen Erfolgsaussichten! Viertens: Es muss massiv und mit allen juristischen Mitteln gegen die Politik des Faktenschaffens vorgegangen werden. Für „S21“ als Gesamtprojekt gibt es kein Baurecht. Es spricht deshalb alles dagegen, so ein extrem teures und umstrittenes Bauprojekt zu beginnen. Noch sind nicht alle Bäume gefällt, es besteht also dringender Handlungsbedarf, und fünftens: Ein Kapazitätsabbau der Schieneninfrastruktur ist abzulehnen, gesetzeswidrig und daher juristisch anfechtbar!
Seit Mitte November 2011 sind die Vorwürfe gut dokumentiert. Es ist also beweisbar, dass der Stresstest systematisch manipuliert worden ist, auch mit ganz neuen Fakten. Dass „S21“ Kapazitätsabbau bedeutet, war der Bevölkerung, als sie am 27. November zur Volksabstimmung gerufen wurde, nicht bekannt. Es ist mit keinem Argument der Welt zu rechtfertigen, dass Kapazitäten abgebaut, dass dabei wertvolle Substanz zerstört und dass am Ende für den Rückbau und die Zerstörung der Stadt auch noch extrem viel Steuergeld bezahlt werden soll!
Liebe Grüne, das alles ist also unverzüglich zu tun, auch und erst recht in der Regierung. Kommt also in die Gänge, lasst euch von SPD nicht länger in Schockstarre halten, tretet euch selber in den Hintern und handelt endlich! Ihr habt von uns keinen Freibrief bekommen. Was Wahlen verändern können, habt ihr im März letzten Jahres selber erlebt, und das kann auch ganz schnell wieder in die andere Richtung gehen. Ihr habt jetzt die letzte Chance zu zeigen, dass ihr keine zahnlosen Tiger seid. Nutzt, verdammt noch mal, eure Möglichkeiten und fangt endlich an zu regieren!
Und noch eine Ansprache in eigener Sache. Lieber Winfried Hermann, ich habe dich im Sommer hier öffentlich vor der unmäßigen Kritik verteidigt, die nach der Amtsübernahme auf dich niedergeprasselt ist. Inzwischen hört man gar nichts mehr von dir. Du bist gänzlich abgetaucht, was „S21“ betrifft, nicht mehr vorhanden, und das ist sehr bedauerlich, denn wir brauchen deine Beharrlichkeit, deine Kritikfähigkeit und deine Kraft. Politik machen hat auch etwas mit Mut und Charakter zu tun, und davon hattest du mehr als manche andere, und auch für einen Verkehrsminister, der mit den Technokraten der SPD zusammenarbeiten muss, gilt, dass er Schaden vom Land abwenden muss, also nutz die Steilvorlagen, die aus dem Widerstand kommen! Ich bitte dich hiermit öffentlich, deine kritische, leidenschaftliche und berechtigte Arbeit gegen „S21“ wieder aufzunehmen!
Liebe Mitkämpfer und Mitkämpferinnen, wenn man bedenkt, dass Stuttgart eine mehrheitlich von der CDU bestimmte Stadt ist, so ist das Ergebnis der Volksabstimmung ein respektables Ergebnis. Wenn man die Fehler betrachtet, die es auch bei uns, den „S21“-Gegnern gab, und wenn man die tatsächlichen Ursachen des Erfolgs der „Proler“ analysiert – erfolgreiche Platzierung von Lügen, viel mehr Geld im Wahlkampf, der Schuster-Brief und so weiter –, dann wird deutlich: Wir hätten die Sache auch gewinnen können. Die Mehrheit in der Landeshauptstadt kann sich jederzeit wieder zu unseren Gunsten verändern. Daran müssen wir glauben und im Hinblick darauf weiterkämpfen!
Die Bahn und die Bundesregierung wissen, dass mit „S21“ gegen Recht und Gesetz verstoßen wird. Sie wissen auch, dass das Projekt bereits aus technischen und baurechtlichen Gründen zu scheitern droht. Sie arbeiten deshalb mit der immer gleichen Taktik des Faktenschaffens weiter, „S21“ so weit voranzutreiben, dass ein Abbruch des Projekts kaum noch realisierbar ist, um die politische Bewegung gegen „S21“ zu brechen und ihre weitere Ausstrahlung auf viele vergleichbare Bewegungen im Land zu beenden. Deswegen wird gerade in diesem Moment der Schlosspark weiter zerstört.
Liebe Freunde und Freundinnen, wir haben in dieser Woche unsere bisher größte Niederlage erlitten. Das frustriert enorm, macht traurig und zieht viel Energie ab, aber ich bin überzeugt davon, dass wir stark genug sind, aus diesem Schmerz neue Kraft zu gewinnen, unsere Wut produktiv zu machen! Natürlich geht es immer darum, das Gesamtprojekt „S21“ zu beenden, aber es gibt noch viele andere, ganz konkrete Gründe weiterzukämpfen: Die erste Hälfte der bedrohten Bäume ist gefallen, die zweite steht noch! Die Gefährdung der Mineralquellen kann noch verhindert werden! Eine mindestens zehnjährige Belastung durch Europas größte Baustelle im Herzen Stuttgarts kann noch abgewendet werden! Es geht darum, wer in Stuttgart Oberbürgermeister wird, und es geht nach wie vor um das neue, das andere Stuttgart, um die Wende hin zu einer emanzipierten Stadtkultur, in der die Bürger das Sagen haben und nicht die Wirtschafts- und Unternehmenseliten!
Für all das lohnt es sich, weiter zu streiten: mit Demonstrationen, mit Mahnwachen, mit alternativen Medien, mit all dem, was wir in den letzten Jahren geschaffen, mit all dem, wofür wir in ganz Deutschland und weltweit viel Akzeptanz und Bewunderung bekommen haben! Liebe Mitkämpfer, liebe Mitkämpferinnen, „Stuttgart 21“ ist verkehrspolitisch falsch, „Stuttgart 21“ ist zerstörerisch, „Stuttgart 21“ ist gesetzeswidrig, und deshalb wird „Stuttgart 21“ an sich selber und am Widerstand dagegen scheitern, und dieser Widerstand wird weitergehen, so lange, bis wir dauerhaft oben bleiben!
Bombe, Rakete, Atom: Jeden Tag speichert
der Geheimdienst 100.000 E-Mails, in denen „schlimme
Wörter“ stehen („Süddeutsche Zeitung“)
Die wegen zweier Pfandbons entlassene Kassiererin
„Emmely“ stellt am Montag, dem 27. Februar
2012, um 19 Uhr im DGB-Haus am Bahnhofsplatz ihr
Buch „Gestreikt, gekündigt, gekämpft,
gewonnen“ vor.