237. Bremer Montagsdemo
am 06. 07. 2009  I◄◄  ►►I

 

Piratenalarm –
„Klarmachen zum Ändern“?

Gerolf D. Brettschneider1. Auf meine Einladung hin haben diesen Montag zwei Partei-„Piraten“ unsere Demo „geen­tert“ und ihre neugegründete Organisation als basisdemokratische Bürgerrechtspartei mit der Forderung „Gläserner Staat statt gläserne Bürger“ vorgestellt. Drei Verwandte haben bei der Europawahl ihre Stimmen der Piratenpartei gegeben, daher meine Aufmerksamkeit für dieses Phänomen. Mein Eindruck ist nun, dass die bürgerliche Presse gern die Gelegenheit nutzt, einen etwas verschroben technikverliebten Jungmännerclub als „fortschrittliche Systemalternative“ hochzuschreiben, die herrschende „Eigentumsverhältnisse miss­achtet“ und auf sympathisch anarchische Weise einen „Aufstand der Besitzlosen gegen Reichtum und Macht inszeniert“.

Sollen die Piraten der Linkspartei damit ein, zwei oder mehr Prozentpunkte und womöglich den Einzug in den Bundestag klauen? Dabei geht es den Neulingen mit der Informations­freiheit doch eher um ein Luxusproblem – wenn mir Essen und Obdach fehlen! Ohne Aussagen zur Sozial-, Wirtschafts-, Umwelt- und Friedenspolitik gibt es keine Systemalternative und keine ernstzunehmende Partei. Wenn aber einfach nur Klärungsbedarf bei den Piraten besteht, könnten sie vielleicht Mitstreiter und Bündnispartner der Montagsdemo werden. Sollten die Piraten vor der Wahl bei uns Flagge zeigen, könnten auch andere Parteien das wieder tun.

 

2. Ohne Verschulden meinerseits habe ich im Juli kein Geld von der Bagis erhalten, zum zweiten Mal in Folge und zum dritten Mal binnen eines Jahres. Als am Monatsdritten die Abbuchung der Miete von meinem Konto geplatzt war, suchte ich mit einem Beistand die Bagis West auf. Dort wurde uns vom Wachmann die Tür verwehrt, da am Freitag geschlossen sei und ich „keinen Termin“ hätte. Die Empfangsdame hinterm Fenster händigte mir ein Blatt mit den Öffnungszeiten aus und sagte, ich solle am Montag wiederkommen. Sie versuchte nicht, durch Nachfragen herauszufinden, ob eine Notlage vorliegt. Auf unsere Erkundigung nach ihrem Namen weigerte sie sich, diesen zu nennen, und der zweite Wachmann schlug die Sprechklappe zu. Er trat einen Schritt zurück, als ich versuchte, den langen, mit kleinen Buchstaben geschriebenen Namen auf dem Schildchen zu entziffern, das er als einziger trug. Wir verließen die Bagis West, nachdem uns damit gedroht wurde, die Polizei zu rufen.

Meine Sachbearbeiterin der Leistungsabteilung war an diesem Tag, wie wir von der Telefonzentrale erfuhren, im Hause anwesend. Unter ihrer Nummer, die wir erhielten, war jedoch erst besetzt, später wurde nicht abgenommen. Ich erreichte die Dame erst am Montag, wurde aber mit dem Hinweis abgewimmelt, es sei niemand da, der die Barauszahlung bewilligen könne, und bekam nur einen Termin für den Folgetag. Am Dienstag, dem 7. Juli, blickten die Wachmänner auf den Boden, als ich die Bagis betrat, und ich erhielt mein Geld binnen weniger Minuten. Die routiniert vorgetragene Begründung meiner Sachbearbeiterin lautete, bei der Regelsatzanpassung um acht Euro in diesem Monat habe „die Software“ in einigen Fällen die Zahlung nicht wieder angewiesen. So bleibt festzuhalten, dass die Argen auch im Jahr vor ihrer absehbaren Auflösung die Erfüllung ihres gesetzlichen Grundsicherungsauftrags nicht garantieren können – und dass die Bagis nicht einmal gewillt ist, Notdienst zu leisten.

Gerolf D. Brettschneider (parteilos)
 
Mit Klappe auf dem rechten Auge: Piratenpartei
ohne Kompass unterwegs („Scharf links“)
 
Am Samstag, dem 11. Juli 2009, trifft sich um 18 Uhr die „Wählerinitiative Wolfgang Lange“ im „Verein für gleiche Rechte“ in der Hansastraße (Baracke links nahe Zolltor „Roter Sand“) in Bremerhaven-Lehe. Von Bremen aus wollen wir mit Zug und Niedersachen-Ticket dorthin fahren. Treffpunkt ist um 16:15 Uhr am Eingang zum Bremer Hauptbahnhof an der Blindentafel.

 

Sportler und Touristen zu militärischen Testzwecken benutzen?

Während der diesjährigen Kieler Woche gab es eine besonders heimtückische Variante zivil-militärischer Zusammenarbeit, woran erneut ein Bremer Rüstungsunternehmen zumindest indirekt beteiligt ist. Nein, nicht schon wieder die Lürssen-Werft, sondern diesmal die Firma Atlas Elektronik. Sie stellt für ein neuartiges mobiles Radarsystem, genannt Lexxwar (Longterm Experimental Setup For Asymmetrics Warfare), eine spezielle Software für die Lagebilddarstellung her. Es ist übrigens ein ähnliches System wie für die neue Fregatte F125, und damit wären wir dann doch wieder bei Lürssen. Das jetzt während der Kieler Woche getestete Radarsystem ist Teil des Istra-Entwicklungsprogramms der Nato (Technology for Intelligence, Surveillance, Reconaissance and Target Acquisition of Terrorists,), für das Deutschland innerhalb des westlichen Kriegsbündnisses die Führung übernommen hat.

Wieland von HodenbergDie Kieler Woche sei für einen Radar-Belas­tungstest geeignet, weil „unzählige Wasser- und Luftfahrzeuge unterwegs“ seien, teilt die Kriegsmarine über die Benutzung von Sportlern und Touristen zu militärischen Testzwecken mit. Das mobile Radarsystem soll feindliche Kämpfer in Schlauch- und Speedbooten orten können und wird unter anderem zur Aufstandsbekämpfung benötigt. Die Testphase lief während der gesamten Kieler Woche täglich mehrere Stunden lang im sogenannten Normalbetrieb. Erfasst wurden Hunderte Luft- und Wasserfahrzeuge, darunter auch Sportsegler, die der Marine unfreiwillig als Versuchskaninchen dienten. Zu diesem Zweck wurden inmitten der zivilen Kieler-Woche-Schiffe zwei Speedboote und zwei Segelyachten der Marine platziert – als fiktive „Terroristen“-Fahrzeuge sozusagen, die auf diese Weise mithilfe des Militärradars „aufgespürt“ wurden. Niemand weiß, wie viele ahnungslose Wassersportler(innen) mit der Radarstrahlung eventuell gesundheitlich geschädigt wurden! Den Marinemilitärs scheint dies eh egal zu sein.

Die deutsche Kriegsmarine nutzt das Großevent nicht nur als Lexxwar-Testszenario mit Gratisstatisten, sondern auch zu PR-Zwecken. Zahlreiche Kriegsschiffe wie die Fregatte „Karlsruhe“ konnten besichtigt werden. Seit 2001 ist sie regelmäßig vor dem „Horn von Afrika“ oder vor der Küste des Libanon im Einsatz. Die Stadt Karlsruhe ist „Patenstadt“ des Kriegsschiffs, auf dem ein Karlsruher „Freundeskreis“ unter anderem Kinderfreizeiten organisiert!

Eine Neuerung der diesjährigen Marine-PR war die Erprobung eines „Sonderfeldpostamts“ auf dem Kieler Marinestützpunkt. Diese zuvor in Rostock-Warnemünde erprobte Maßnahme dient dazu, „die Beziehung zwischen den Militärs in den Operationsgebieten und der Zivilbevölkerung zu intensivieren.“ Mehrere Tausend Kieler-Woche-Besucher hatten nach Militärangaben die Gelegenheit genutzt, um einen „spontanen Brief- oder Kartengruß an die Soldaten“ auf den Weg zu bringen. Die Kontaktpflege in die Kriegsgebiete, die im vergangenen Jahr mit 890.000 Briefsendungen und beinahe 220.000 Päckchen und Paketen das Niveau einer 60.000-Einwohner-Stadt erreicht hat, wird von der Bundeswehr als absolut notwendig erachtet. Feldpost, so heißt es, sei „Munition für die Moral der Truppe“. Es ist nicht frauenfeindlich gemeint, wenn mir dazu – auch im Hinblick auf den Auftritt der „Bremer Musical Company“ im letzten Jahr vor der Bundeswehr in Afghanistan – der Satz einfällt: „Reichs-Kontaktpflegerin Lilli Marleen lässt herzlich grüßen!“

Hätten wir keine Soldaten im weltweiten Kriegseinsatz, dann brauchten wir den ganzen teuren Quatsch nicht! Wir brauchten weder „Sonderfeldpostämter“ noch spezielle „Truppenbetreuung“ mit Tanzgruppen und Gesang wie einst in faschistischen Weltkriegszeiten. Schon gar nicht brauchten wir solche Militarismussymbole wie „Ehrenkreuze“ oder „Tapferkeitsmedaillen“, wie sie jetzt von Angela Merkel und Franz-Josef Jung an Bundeswehrsoldaten verliehen wurden. Tapferkeit ist nicht Courage, schrieb die „Tageszeitung“ am 7. Juli recht zutreffend und fährt fort: „Tapfer hätten nach einem humanen Verständnis des Wortes nur diejenigen Soldaten gehandelt, die sich der Tötungsmaschine durch Desertion entzogen. Die aber galt bis weit nach 1945 in der Öffentlichkeit als Feigheit und Verrat. Militärische Tapferkeit ist ein vergifteter Begriff. Tapferkeit im zivilen Bereich hingegen ist eine republikanische Tugend. Wir bezeichnen diese Tugend als Zivilcourage. Zivil mutig handelt auch, wer trotz überwältigenden Konformitätsdrucks auf seinen Ansichten und Prinzipien beharrt.“

Dies genau ist der Punkt! Die Verleihung von „Tapferkeitsmedaillen“ durch Merkel und Jung ist nur mit dem neuen deutschen Imperialismus zu erklären. Gleichwohl ist sie angesichts der faschistischen Vergangenheit ein ungeheuerlicher Skandal!

Wieland von Hodenberg („Bremer Friedensforum“, „Solidarische Hilfe“)

 

Sparen bei den Kranken?

Bettina FenzelAm Donnerstag, dem 25. Juni 2009, bekam ich Nachmittags einen Drehschwindel, als wäre ich aus einen Karussell ausgestiegen, und alles drehte sich im Kreise herum. Eine Freundin fuhr mich mit ihren Auto auf Anraten der Hausärztin zum Ohrenarzt. Der überwies mich an die Notaufnahme des Krankenhauses Sankt-Joseph- Stift ein. Auch dorthin wurde ich dank der freundlichen Hilfe gefahren. Als ehemalige Schülerin der Altenpflege war ich entsetzt darüber, wie in einem „christlichen“ Krankenhaus mit den Menschen und mir selbst umgegangen wurde.

In einer Publikation des „Berufsverbandes Altenpflege“ von März 1987 schreibt Langkau über den pflegerischen Alltag in der Nazizeit: „Niemals zuvor wurde in Deutschland von Seiten der staatlichen Gewalt die Würde der Menschen so eklatant verletzt wie in den Jahren zwischen 1933 und 1945. So ist unser hochsensibilisiertes Verhalten in Bezug auf die Achtung der Würde zu verstehen. So müssten wir also heute der Würde einen hohen Stellenwert einordnen und streng darauf achten, dass diese niemals missbräuchlich verletzt wird.“

Sonntagmorgen erklärte mir Oberarzt Doktor Fleischer: „Auch wenn Sie kein Geld haben, keine Monatskarte und keine Lebensmittel im Kühlschrank, wäre das kein Grund, Sie länger im Krankenhaus zu behalten, also bis Montagmorgen. Würde ich Sie heute nicht entlassen, dann würde ich mich als Mediziner strafbar machen. Sie dürfen aber nicht mit dem Fahrrad fahren.“ Die Vorgehensweise von Oberarzt Fleischer legt Zeugnis von der Menschenverachtung ab, die sich in einem faschistoiden Wirtschaftssystem widerspiegelt: Im Neoliberalismus ist das humane soziales Handeln der Profitgier weniger zum Opfer gefallen. Menschen, die dringend Hilfe benötigen, erhalten diese nicht.

Die kapitalistische Gesellschaft wirft alle sozialen Belange über Bord. Wenige können sich auf Kosten der Mehrheit der Menschen bereichern. Die Krankenhäuser haben nur ein Interesse daran, zehn Tage voll zu bekommen, um abzukassieren. Wie es den Menschen nach den Krankenhausaufenthalt geht, interessiert nicht! Am Freitag, dem 3. Juli 2009, wurde mir von der Krankenschwester erklärt, dass ich mich an den Sozialdienst in Krankenhaus wenden könne, wenn ich eine Hilfe zum Einkaufen oder im Haushalt benötige. Als ich sagte, dass ich kein Geld dafür besitze, erklärte sie mir: „Dann erhalten Sie auch keine Hilfe zum Einkaufen“.

Hat das Krankenhaus einen Kooperationsvertrag mit der Bundeswehr, um für sie Personal für Kriegseinsätze auszubilden? Die katholisch-päpstliche Kirche segnet den Krieg als heilig, obwohl dies gegen den Geist der Bergpredigt verstößt. Die zivilen sozialen Einrichtungen in Gesundheitsbereich haben massiv unter der Militarisierung zu leiden. Für die Mehrheit der Menschen verschlechtern sich die Hilfsmaßnahmen in sozialen und krankenpflegerischen Bereichen. Eine Jugendliche von 13 Jahren war in unsern Zimmer untergebracht. Statt für eine qualifizierte Betreuung durch Sozialarbeiter und Psychologen zu sorgen sowie Kinder- und Jugendbereiche einzurichten, wird Geld für die Bundeswehrausbildung verwendet, das dringend im sozialen Bereich fehlt.

Obwohl ich selbst gesundheitlich angeschlagen war, kümmerte ich mich um eine ältere Dame und die Jugendliche und war damit auch überfordert. Das Pflegepersonal hat immer mehr zu arbeiten und kann sich gar nicht um die Belange der Menschen kümmern. Es wird immer mehr beim fachlichen Personal Geld eingespart. Für die Entlassenen werden Menschen eingestellt, die Ein-Euro-Jobs machen und überhaupt nicht qualifiziert sind, um gut helfen zu können. Ulrike Meinhof erkannte zu Recht: Die Menschenwürde ist antastbar. Sorgen wir dafür, dass sie unantastbar wird, indem wir für eine Welt ohne kapitalistische Ökonomie kämpfen, im Geiste von Rosa Luxemburg!

Bettina Fenzel (parteilos)

 

Arbeitslose „beschnuppern“
beim Job-Speed-Dating?

Elisabeth Graf1. Soll der wegen Untreue und Begünstigung verurteilte ehemalige VW-Vorstandschef Peter Hartz jetzt etwa auf Kosten der Erwerbslosen resozialisiert werden? Unter dem Deckmäntelchen des verkannten Gutmenschentums möchte er nun Langzeiterwerbslosen helfen, sich durch die Weiterentwicklung der Ich-AGs, die nun verniedlichend „Minipreneure“ (von Französisch entrepreneur, „Unternehmer“) genannt werden sollen, selbstständig zu machen. Gemäß neuer Erkenntnisse aus der Hirnforschung soll ein „lokales Netzwerk“ aus Berufstätigen und Langzeitarbeitslosen geschaffen werden. Hierfür werden Erwerbslose benötigt, die von einem gestandenen Handwerksmeister dazu angeleitet werden sollen, ihre „latente Passivität“ zu überwinden. In meinen Ohren klingt hier wieder die herablassende Art durch, die immer davon ausgeht, Erwerbslose müssten nur genügend „an sich arbeiten“, um persönliche Defizite ausgleichen, und schon hätten sie wieder Arbeit. In diesem Fall gelte es nun also, „Passivität“ zu überwinden.

Scheinbar benötigen Hartz und Konsorten nur neue Überschriften und die besagte Hirnforschung, um auszusagen, dass die Teilnehmer miteinander kommunizieren sollen: Aus einem Dialog wird ein Polylog, wobei ein „fundamental kokreativer Prozess“ stattfinde. Offenbar wird sich an die Entwicklung des kindlichen Selbstbildungsprozesses angelehnt, weil Kinder sich auch nicht ohne die Zuwendung von Erwachsenen bilden: Es kann kein Wissen in sie hineingeschüttet werden wie in den Nürnberger Trichter. Manche sprechen lieber von Ko-Konstruktion, wobei es hier nur auf den Blickwinkel ankommt, ob nun der Eigenaktivität des Kindes oder dem Anteil der erwachsenen Fachkräfte mehr Bedeutung beigemessen werden soll. Hartz und Konsorten befinden augenscheinlich, dass Erwerbslose als lernende Kinder begriffen werden müssen, die lediglich einer vernünftigen Anleitung bedürfen, und dann wird es schon. Fragen waren bei der entsprechenden Veranstaltung in Ansbach nicht gestattet, sarkastische Zurufer wurden als Claqueure diffamiert und aus der Halle geleitet. Selbst in der CSU werden kritische Fragen zum Hartz-Comeback formuliert. Der Deutsche Gewerkschaftsbund geht da weiter und kritisiert, dass mit Peter Hartz in Franken „der Brandstifter zur Feuerwehr“ gemacht werden solle. Das sei „geschmacklos“. Ja – und das ist fast noch geschmeichelt!

 

'Bremer Tafel'

2. Bei der Bagis West am Schiffbauerweg liegen Flugblätter der Bremer „Tafel“ aus, wo nicht nur die Zeiten und Bedingungen für die Lebensmittelausgabe beschrieben werden, sondern dort ist auch wörtlich zu lesen, dass Lebensmittel aus Spenden verschiedener Lebensmittelmärkte hin und wieder ein abgelaufenes Datum hätten. Sie würden nach Haltbarkeit vom Team vorsortiert, die Sorge wegen „schlechter“ Lebensmittel sei unbegründet. Wird hier ganz offen und ungeniert dokumentiert und verharmlost, dass durchaus auch Lebensmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum für einen Euro vergeben werden? Nach meinem Wissen müssen in normalen Discountern für „arbeitsmarkttechnisch nicht-überflüssige“ Mitmenschen Lebensmittel aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie das Haltbarkeitsdatum überschritten haben.

Wer trägt die Folgen eventueller Magenverstimmungen oder Vergiftungen? Wenn Gammelfleisch einen neuen Produzenten hat, nämlich die Bremer „Tafel“, dann prost Mahlzeit! Das Geschäftsinhaber spart sich das Geld für eine ordnungsgemäße Entsorgung und darf außerdem hin und wieder in der Zeitung als viel gepriesener Wohltäter im Dienste der Allgemeinheit seinen Namen lesen. Gut, dass es die „Tafeln“ gibt! Wo sonst sollte dieser „Müll“ entsorgt werden, und dazu noch kostenpflichtig? Da ist es doch weitaus umwelt- und geldbeutelschonender, die abgelaufenen Lebensmittel durch „Hartzis“ verzehren zu lassen, als der Gefahr wachsender Müllberge und vermeidbarer Unkosten ins Auge sehen zu müssen. Mich stört die menschenverachtende Haltung, auch wenn ich weiß, dass nicht alles gleich verdorben ist, was die Haltbarkeitsgrenze überschritten hat.

 

3. Die niedersächsische Landesbischöfin Margot Käßmann beklagt die gravierenden Folgen von Armut für Kinder. In der Schule erzähle bereits jedes dritte Kind, dass es gehänselt wird, wenn es bei Klamotten, Handy, Computer und Freizeitaktivitäten nicht mithalten könne. Sie zieht zwar eine positive Bilanz der vor einem Jahr gestarteten Kircheninitiative „Zukunft(s)gestalten“, befindet aber die Dimension der Armut in Niedersachsen als untragbar. Inzwischen muss dort jedes sechste Kind unterhalb der Armutsgrenze vegetieren. Die Bischöfin weist auf die versteckte Kinderarmut hin, wenn Kinder ohne ordentlichen Ranzen zur Schule gehen müssen oder in den Ferien nur in der Wohnung hocken und Urlaubsreisen lediglich aus den Erzählungen ihrer Mitschüler kennen würden. Es ist ja schön, wenn die Kirche sich 2008 mit einer Million Euro an Projekten gegen die Kinderarmut beteiligte, aber gleichzeitig verdient sie auch weiterhin an der Armut durch die Beschäftigung der Eltern dieser armen Kinder als Ein-Euro-Jobber. Denn wo Kinder arm und ausgegrenzt sind, stehen vorher ihre Eltern, weil es zu wenig Jobs und keinen ausreichenden Mindestlohn gibt und die Transferleistungen bei Weitem nicht ausreichen!

 

4. Für 28.700 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene begann im Jahr 2007 die Erziehung in einem Heim oder in einer betreuten Wohnform. Laut dem Statistischen Bundesamt betraf es 17 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Als Gründe dafür werden mit 43 Prozent eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern, mit 35 Prozent Auffälligkeiten im Sozialverhalten und mit 22 Prozent Gefährdung des Kindeswohls oder die unzureichende Förderung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen angegeben. Während Jungen und Mädchen beinahe gleich häufig von eingeschränkter Erziehungskompetenz betroffen waren, wurden Auffälligkeiten im sozialen Verhalten bei Jungen und jungen Männern zu 40 Prozent als Grund genannt, bei Mädchen und jungen Frauen zu 30 Prozent. Es verwundert nicht, wenn dann bei den Jungen mit 27 Prozent häufiger schulische Probleme zu einer Aufnahme ins Heim führten als mit 19 Prozent bei den Mädchen.

Hier werden leider nur nackte Zahlen genannt und keine Ursachenforschung betrieben. Sind tatsächlich immer mehr Eltern nur eingeschränkt ihrer Erziehungsaufgabe gewachsen, oder schauen die Behörden nur genauer hin? Müssen sich die wachsende Armut, die zunehmende Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt, die beengten Wohnverhältnisse, die menschenverachtende Behandlung von Seiten der Argen oder die Segregation nicht zwangsweise negativ auf die gesamte Lebenssituation finanziell Benachteiligter ausweiten? Leider wird nicht jeder mit der gleichen Portion Resilienz ausgestattet, die dabei hilft, solch ausgesprochen schwierige Lebenssituationen zu überstehen.

 

5. Deutschland droht wieder Massenarbeitslosigkeit. Im Juni ist die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt gestiegen. In seiner Not, die Statistiken vor der Bundestagswahl so gut wie möglich aussehen zu lassen, setzt der Staat auf private Vermittler. Bisher taugten die wenig und deswegen sollen jetzt neue Besen fegen dürfen wie zum Beispiel Speed-Dating für Jobsuchende. So lud der private Arbeitsvermittler Hans-Joachim Elsner rund 30 Männer und Frauen ein, die alle über 50 Jahre sind und deswegen als schwer vermittelbar gelten, zu einem „Job-Speed-Dating“ ein, bei dem sich Bewerber und Personalchefs in zehn bis 15 Minuten „beschnuppern“ können. Dafür mietet er einen Festsaal und verspricht Catering, Musik und Promis zur Auflockerung. Die Idee für die Kuppelshow kommt aus England: In Manchester wird das „Speed-Dating“ seit vergangenem Oktober als Arbeitsvermittlungsmaßnahme erprobt. Von 350 Teilnehmern sind beim vorigen Mal 80 mit einem Arbeitsvertrag nach Hause gegangen. Die geladenen Erwerbslosen waren Möbelverkäufer, Werbefachfrauen, Einkaufsleiter, Altenpflegerinnen oder Chefsekretärinnen, von denen viele im vergangenen Jahr kein persönliches Vorstellungsgespräch bei einem Unternehmen hatten.

Erstaunlicherweise soll es hier ausnahmsweise mal um echte Jobs, also tatsächlich sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen gehen. Bisher konnte Herr Elsner 40 Unternehmen gewinnen und will es auf 100 bringen, die dann auf 650 Erwerbslose treffen sollen. Es ist ein ungewöhnliches Experiment für alle: die Erwerbslosen, die Arge München und den privaten Arbeitsvermittler A4e, dessen Deutschlandchef Elsner ist. A4e steht für „Action for employment“ und hat in Manchester das Massendating für Erwerbslose erfunden. Dass private Arbeitsvermittlung in Deutschland neuerdings wieder angesagt ist, hat bestimmt mit der Tatsache zu tun, dass die privat „betreuten“ Erwerbslosen nicht mehr zu denen mitgezählt werden müssen, die bei der Arbeitsagentur gemeldet sind. Im April 2009 waren rund 200.000 Arbeitslose bei kommerziellen Anbietern untergebracht, doppelt so viele wie im Vorjahresmonat. Da die Wahlen immer näher rücken, scheint Hektik geflissentlich zur Ausrüstung für die Zurschaustellung euphemistischer Statistiken zu gehören.

 

6. Potzblitz, nun will die Bundesagentur für Arbeit dafür sorgen, dass das Image von ALG-II-Beziehern besser wird! Dabei sind doch die Hartz-IV-Vorurteile natürlich alle handverlesen selbstgezüchtet, um den Erwerbslosen das Gefühl von eigener „Schuld“ an diesem Zustand zu geben und nicht auf die Unmöglichkeit einer Vollbeschäftigung für alle bei einer 40-Stunden-Woche zu verweisen. Dem zum Trotz soll mit der Informationskampagne „Hilfreiche Hände“ dafür gesorgt werden, die Vorurteile zu beseitigen, wobei besonders die Handwerksunternehmen angesprochen werden sollen. 1,5 Millionen Euro wird diese Kampagne kosten, die bei den Arbeitgebern Vorurteile gegenüber den Erwerbslosen abgebauen sollen. Unter dem Titel „Zehn gute Gründe, ‚Hartz-IV‘-Empfänger einzustellen“ sollen Plakate, Diskussionen und Informationen zu Fördermöglichkeiten das Image von jobsuchenden Hartz-IV-Beziehern verbessern.

Das Handwerk leide unter Fachkräftemangel, und dies lasse sich zum Teil durch die Einstellung von ALG-II-Beziehern beheben. Arbeitsagenturchef Heinrich Alt wies darauf hin, dass Handwerk und Sozialpflege mit insgesamt rund 130.000 gemeldeten Stellen trotz angespannter Konjunkturlage Branchen mit wachsenden Arbeitsplatzzahlen seien. Er behauptete, nur 200.000 der ALG-II-Bezieher besäßen handwerkliche Berufsqualifikationen, nur 80.000 kämen aus Gesundheits- und Sozialberufen. Diese sollten „zurück ins Boot geholt“ werden. Wenn das so einfach mit anständig bezahlten Stellen gewünscht wäre, hätte es doch schon lange gemacht werden können! Es muss schon ein bisschen mehr getan werden, als das Land durchzuplakatieren. Überschriften und hehre Ziele reichen nicht aus, wenn denn wirklich daran gelegen sein sollte!

 

7. Wie ernst es gemeint ist, das Ansehen von ALG-II-Beziehern aufzubessern, stellte letzte Woche der Berliner FDP-Spitzenkandidat Martin Lindner unter Beweis: Er forderte, dass der ALG-II-Regelsatz um bis zu 30 Prozent gekürzt werde, weil nach seiner vollkommen aus der Luft gegriffenen Unterstellung extrem viele Menschen schlichtweg keine Lust hätten zu arbeiten. Die Bezieher staatlicher Sozialleistungen sollten außerdem zu bezahlter gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden. Lindner versteifte sich auf die Vorstellung, die soziale Sicherung könne so überdreht werden, dass die Leute keine Lust mehr hätten zu arbeiten, weil sie genau so gut oder besser dastehen, wenn sie Hartz IV kassieren, als wenn sie bestimmte Berufe im Dienstleistungsgewerbe ausüben. Dass so viele Menschen immer von sich auf andere projizieren! Andererseits müssen die geplanten Steuersenkungen für die eigene Klientel ja gegenfinanziert werden.

Das „Erwerbslosenforum Deutschland“ forderte, die Erwerbslosen sollten nun wirklich die Berliner FDP-Dummschwätzer zum Teufel jagen, wenn diese völlige soziale Inkompetenz und menschenverachtende Gesinnung zum Hauptthema öffentlicher Wahlveranstaltungen machen. Die FDP beweist, dass sie Arme nicht ernst nimmt, wenn erst letzten Dezember ihr Berliner Fraktionsvize Henner Schmidt den Vorschlag machte, arme Berliner könnten sich etwas Geld dazuverdienen und Ratten fangen. Die Berliner FDP scheint eine Ansammlung einer besonderen Spezies von Politikern zu sein, deren Hauptaufgabe die Diffamierung von sozial Benachteiligten ist! Dabei scheint kein noch so dummes Argument tabu zu sein. Der Sprecher des „Erwerbslosenforums“, Martin Behrsing, fordert, dass Berliner FDP-Leute erst mal sechs bis acht Monate von Hartz-IV-Bezügen und mit Behördenzwängen leben, bevor sie auf Mitmenschen losgelassen werden.

Wahrscheinlich bliebe dann kein Politiker mehr übrig. Wenn Bundesfinanzminister Peer Steinbrück Vermögende demnächst ohne Vorankündigung von Finanzbeamten auf Steuerhinterziehung überprüfen will, kreischt es aus der FDP sehr laut, das gehe nun aber zu weit, weil es einem Generalverdacht gleichkomme, alle Vermögenden seien Steuerbetrüger. Aber im Gegenzug allen ALG-II-Beziehern pauschal Arbeitsscheu, Faulheit und Betrug zu unterstellen, ist völlig okay! Da kann ich mich nur wiederholen, dass mensch nicht immer von sich auf andere projizieren sollte. Aber selbst wenn das Gehetze einmal ernst genommen würde, schadete der Vorschlag des FDP-Spitzenkandidaten der Wirtschaft. Werden wirklich Hunderttausende Jobs allein in Berlin für Langzeiterwerbslose geschaffen, dann gehen dadurch Aufträge für die Privatwirtschaft verloren. Diese ganzen sinnvollen Jobs gibt es doch gar nicht! Dadurch stiege nur die Gefahr an, dass nun von Erwerbslosen Arbeit übernommen werden müsste, die bislang ordentlich bezahlt wurde und jetzt zu Dumping-Lohn-Arbeit mutieren soll!

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
Zweckoptimismus vor der Bundestagswahl: Nach der Finanzmarktkrise
kommt die Staatsschuldenkrise („Spiegel-Online“)
 
Kein Datenschutz: Hartz-IV-Betroffene müssen im Bagis-Wartebereich persönliche Fragen vor ungezählten Zeugen beantworten („Weser-Kurier“)
 
Ehemalige Beitragszahler übervorteilt: Bundesagentur-Vize Alt fordert
Rückkehr zur Arbeitslosenhilfe („Die Welt“)
 
Die Bremer Montagsdemo feiert ihr diesjähriges Sommerfest am Samstag, dem 8. August 2009, in den Neustadtswallanlagen.

 

Arbeitsunwillig, Herr Lindner?

Frank KleinschmidtNach der Äußerung des Berliner FDP-Spi­tzenkandidaten Martin Lindner – der meinte, den sogenannten Hartz-IV-Regelsatz (die Regelleistung nach § 20 SGB II) um bis zu 30 Prozent kürzen zu müssen, weil „extrem viele Menschen, die gesund und arbeitsfähig wären, aber keine Lust hätten“ – wird es Zeit, über die Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Lust der Abgeordneten zu reden. Hätte Herr Lindner die entsprechende Arbeitsfähigkeit und Lust gehabt, die seitens der Regierung gefälschten Arbeitslosenstatistiken mit den tatsächlichen Arbeitslosenzahlen zu vergleichen, dann hätte er sicherlich festgestellt, dass weder Arbeitsfähigkeit noch Lust noch Gesundheit die fehlenden Arbeitsplätze herbeizaubern können. Bei derartiger Unlust zur Arbeitswilligkeit des Herrn Lindner stellt sich die Frage, ob er nicht mit einer Diätensenkung von 90 Prozent sanktioniert gehört! Doch Spaß beiseite: Wer derartige Vorschläge unterbreitet, ist wohl eher gesundheitlich angeschlagen. Ein Soziopath wie Herr Lindner bedarf medizinischer Betreuung.

Frank Kleinschmidt (parteilos, „so:leb – Sozialer Lebensbund“)

 

Heuern und Feuern,
das ist die Devise!

Harald BraunNachdem ich 16 Monate als Drucker in einem Kleinbetrieb gearbeitet habe, erhielt ich letzte Woche – während meiner Krankmeldung – die Kündigung. Vor sechs Wochen hatte ich mir einen Bandscheibenvorfall am Arbeitsplatz zugezogen. Nach der Diagnose aufgrund einer Kernspintomographie war klar, dass ich die Wirbelsäule nicht belasten durfte und arbeitsunfähig war. Aber mein Chef wollte die Zeit meiner Genesung nicht bezahlen und kein Risiko in Bezug auf meine weitere Einsatzfähigkeit tragen. Kranke Kollegen sind nur Kostenfaktoren, deshalb geht es Ruckzuck mit Entlassungen. Zuvor hatte der Chef ein Jahr lang den 40-prozentigen Lohnzuschuss aus dem Programm „Über 50“ einkassiert. Nachdem diese Förderung ausgelaufen war, war ich ihm sowieso „zu teuer“.

Heuern und Feuern – diese kapitalistische Logik ist überall gang und gäbe. Menschen, die lebenslang schwere körperliche Arbeit leisten und ihre Gesundheit ruinieren, werden einfach auf die Straße geworfen, wenn sie nicht mehr optimal ausgebeutet werden können. Ich habe sofort versucht, eine Kündigungsschutzklage einzureichen. Aber damit habe ich keine Chance, weil es keinen Kündigungsschutz für Kleinbetriebe unter zehn Beschäftigten mehr gibt. Die Große Koalition aus SPD und CDU hat 2007 die rechtlichen Möglichkeiten massiv eingeschränkt. Damals wurde von der Bundesregierung der Schlüssel von fünf auf zehn Beschäftigte erhöht und damit Hunderttausenden Kolleginnen und Kollegen der Kündigungsschutz geraubt. Unsere Montagsdemo sollte deshalb nicht nur Widerstand gegen den Sozialabbau leisten, sondern auch für politische Rechte und Freiheiten kämpfen! Die Erfahrung mit meiner Kündigung hat mich darin bestärkt, für eine andere, lebenswerte Gesellschaft einzutreten. Erst im echten Sozialismus werden die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen und das solidarische Zusammenleben im Mittelpunkt stehen und nicht mehr die Profitmacherei auf unserem Rücken.

Harald Braun
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz