1. Glaubt man der japanischen Regierung, dann ist die wachsende Zahl junger Krebskranker in Fukushima – sechs Jahre nach dem GAU – reiner Zufall beziehungsweise die unerwartet hohe Zahl von inzwischen 185 Fällen von Schilddrüsenkrebs schlicht eine Folge der Massenuntersuchung. Dabei seien Tumoren entdeckt worden, die sonst nie gefunden worden wären. Es sei schwer vorstellbar, die Krebsfälle auf die radioaktive Strahlung zurückzuführen. Gesellschaft und Politik in Japan wollen die Atomkatastrophe vor nunmehr sechs Jahren hinter sich lassen und sich lieber auf den Wiederaufbau konzentrieren. Da gelten die Krebspatienten nur als Störer.
Vergessen wir nicht, dass Regierungschef Shinzo Abe vor dreieinhalb Jahren der Welt versichert hat, das AKW Fukushima sei unter Kontrolle. Seitdem laufen die Stilllegung der Reaktoren und die Rückbesiedlung der Evakuierungszone auf Hochtouren. Von der Opposition scheint keine Hilfe zu erwarten sein, weil sie damals selbst regierte und nicht nur das Verteilen von Jodtabletten versäumte, sondern versehentlich auch noch evakuierte AKW-Anwohner in radioaktive Wolken schickte. Niemand kümmert sich also um die Krebskranken in Fukushima.
Wissenschaftlich ist es unmöglich, eine einzelne Krebserkrankung auf radioaktive Strahlung zurückzuführen, doch seit dem Atomunfall von Tschernobyl wissen wir, dass sich radioaktives Jod-131 in den Schilddrüsen vor allem von Kindern und Teenagern sammelt und dort Krebs verursachen kann. Der Epidemiologe Toshihide Tsuda berichtet, dass die gesundheitliche Lage in Fukushima inzwischen immer mehr jener in Tschernobyl ähnelt: Die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und Jugendlichen liege 20- bis 50- Mal höher als in nicht verstrahlten Gebieten Japans, und fast die Hälfte der Patienten sei männlich, während Schilddrüsenkrebs normalerweise eine Frauenkrankheit ist.
Eine zweite Parallele sei die im Laufe der Zeit steigende Zahl von Krebsfällen, eine dritte ihre anomale Verteilung. Weil die Menge an ausgetretenem radioaktivem Material in Fukushima deutlich kleiner als in Tschernobyl gewesen und die Umgebung schneller evakuiert worden sei, leugnet die japanische Regierung weiter jeden Zusammenhang zwischen Strahlung und Krebs. Letztlich will die Regierung offenbar keine Verantwortung für den Unfall übernehmen und mit der Atomkraft weitermachen.
Operationen an der Schilddrüse dürfen nur in bestimmten Krankenhäusern stattfinden, weil sonst die Kosten nicht übernommen werden. So behält das Aufsichtskomitee praktischerweise die Kontrolle über alle Krebsdaten. Natürlich sitzen dort auch keine unabhängigen Fachleute mehr, seit sich der einzige Schilddrüsenexperte, Kazuo Shimizu, im Oktober 2016 zurückzog und von der Komitee-Meinung distanzierte, wonach die Strahlung für den Krebs nicht verantwortlich sei. Der Arzt, der seit vielen Jahren Schilddrüsenkrebspatienten aus Tschernobyl behandelt, sagte, die hohe Rate widerspreche seiner klinischen Erfahrung.
Atombombenopfer, Quecksilber-Geschädigte aus Minamata, zwangssterilisierte Leprakranke und Angehörige von Blutern, die an HIV-verseuchten Arzneimitteln starben, haben erleben müssen, dass sich der japanische Staat seinen Bürgern gegenüber immer wieder kaltherzig verhält, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Meistens dauerte es viele Jahre, bis die Zahl der Opfer so groß wurde, dass sie sich organisieren und protestieren konnten. Dieser Prozess habe in Fukushima gerade erst begonnen.
Inzwischen sei die Erklärungsnot der staatlichen Behörden so groß geworden, dass sie ihre Strategie geändert haben. Das Aufsichtskomitee beschloss im Februar, einfach ein neues Fachgremium einzusetzen. Dieses kann auf diese Weise herzallerliebst, wissenschaftlich ganz „neutral“ und ein für alle Male feststellen, dass die Krebsfälle eben nicht durch die radioaktive Strahlung verursacht worden seien. Dann hätte man einen Grund, die Zahl der Untersuchungen weiter zu verringern.
Leider kann ich nicht davon ausgehen, dass in Deutschland mit den Gefahren durch Atomkraftwerke für die Bevölkerung verantwortungsvoll umgegangen wird. Verharmlost und abgestritten werden sie meiner Meinung nach in jedem Fall, ein Gewinn der Atomlobby. Aus einer Studie, die das Bundesamt für Strahlenschutz im Dezember 2007 veröffentlicht hat, geht hervor, dass die Häufigkeit von Krebserkrankungen bei Kindern unter fünf Jahren mit der Nähe zum Reaktorstandort deutlich zunimmt. Die Studie mit Daten von über 6.000 Kindern habe bislang die deutlichsten Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko bei Kindern in der Nähe von Kernkraftwerken geliefert.
Demnach sei das Risiko im Fünf-Kilometer-Radius für Kinder unter fünf Jahren um 60 Prozent, das Leukämierisiko um etwa 120 Prozent erhöht. Für den Zeitraum von 1980 bis 2003 sei ermittelt worden, dass im Umkreis von fünf Kilometern um die Reaktoren 77 Kinder an Krebs erkrankten, davon 37 Kinder an Leukämie. Dabei wären im statistischen Durchschnitt „nur“ 48 Krebserkrankungen beziehungsweise 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Es ist natürlich davon auszugehen, dass Krebs nicht nur bei Kleinkindern auftritt, sondern auch Kinder und Erwachsene betroffen sind.
Praktischerweise wurden deren Erkrankungsraten bisher noch nicht in einer weltweit vergleichbaren Weise systematisch untersucht. Das verwundert mich nicht: Da es rein zahlenmäßig wohl eine viel größere Anzahl wäre, würde vermutlich den einzelnen Erkrankten persönlich unterstellt, ihre Krankheit individuell durch Rauchen und Ähnliches selbst verursacht zu haben. Methodisch böte es sich förmlich an, mit den Erkrankten ebenso menschenverachtend umzugehen wie mit Erwerbslosen: Auch denen wird ein gesellschaftliches Problem, dass es eben nicht für alle bezahlte Arbeit gibt, massenhaft höchstindividuell als Einzelperson angelastet.
2. Nicht nur im fernen Japan sagen die verantwortlichen Stellen „Keine Ahnung, weiß von nichts“ oder können angeblich keine Zusammenhänge zwischen dem in meinen Augen Offensichtlichen herstellen. Zum Entsetzen der Umweltschützer will die Erdgas-Industrie in Niedersachsen nach Jahren in der „Warteschleife“ nun „in die Vollen“ gehen, die Förderung massiv ankurbeln und ab 2021 auch wieder fracken. Die Umweltschützer befürchten durch Fracking noch mehr Erdbeben, Gesundheitsschäden und Krebstote in den Förderregionen.
Der Ingenieur und Umweltaktivist Bernd Ebeling aus dem Wendland hat für eine Dokumentation Speisepilzproben an einer Förderstelle im niedersächsischen Heidekreis sowie an der zentralen Erdgasaufbereitungsstation Steinitz bei Salzwedel in Sachsen-Anhalt entnommen. Die Laboranalyse der Pilze brachte als erschreckendes Ergebnis, dass Butterpilze und Hexenröhrlinge aus Steinitz 14 Mal höhere Quecksilberkonzentrationen aufwiesen als die Mittelwerte aus Sachsen-Anhalt.
An der Erdgasfördersonde „Munster Nord Z1“ im Heidekreis lagen die Werte für Butterpilze sechs- bis zehnfach über den Durchschnittswerten und 23 Mal so hoch wie eine Vergleichsprobe aus dem Kreis Lüchow-Dannenberg. Fast alle Pilzproben überschreiten den EU-Grenzwert von 0,01 Milligramm pro Kilo um ein Vielfaches. Weil Speisepilze mit solch hohen Quecksilberwerten keinesfalls gegessen werden sollten, will Ebeling nun die zuständigen Behörden in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt auffordern, das Pilzesammeln an Erdgasförderanlagen zu verbieten.
Er forderte, auch Heidelbeeren, Sträucher und Bäume in der Umgebung auf ihren Quecksilbergehalt und andere Schadstoffe zu untersuchen. Für Ebeling steht außer Frage, dass das Quecksilber in den Pilzen aus den Erdgasanlagen stammt. Schließlich sei allgemein bekannt, dass Pilze über ihr weitverzweigtes wurzelartiges Myzel Schwermetalle aufnähmen.
Auch an vielen anderen Förderstätten und Bohrplätzen in Niedersachsen wurden teils deutlich erhöhte Quecksilberwerte und Konzentrationen anderer giftiger Metalle festgestellt. Sie sind im rohen Erdgas und Erdöl enthalten und gelangen zum Teil bei der Förderung und Reinigung in Luft, Boden und Grundwasser. Durch geborstene oder undichte Leitungen und beim Abfackeln werden auch radioaktive Nuklide wie der gefährliche Alphastrahler Radium 226 oder das Edelgas Radon 222 teilweise freigesetzt.
Bürgerinitiativen sehen in den Giftstoffen die Ursache für Krebs und andere Erkrankungen. Im Kreis Rotenburg an der Wümme sorgte in den vergangenen Jahren eine Häufung von Krebsfällen für großes Aufsehen. Allein an Leukämie und Lymphomen erkrankten in der Samtgemeinde Bothel, wo seit Jahren Gas gefördert und auch gefrackt wird, neben vielen Frauen doppelt so viele Männer wie statistisch zu erwarten gewesen wäre. Im Dorf Bellen bei Bothel starb in den vergangenen elf Jahren niemand an etwas anderem als an Krebs.
Erhöhte Krebsraten gibt es auch in Rodewald im Kreis Nienburg, wo Erdöl gefördert wird. Ein Statistiker des Epidemiologischen Krebsregisters Niedersachsen sah sich die dortigen Krebserkrankungen im Zeitraum 2003 bis 2012 näher an und kam zu erschreckenden Befunden: In der Gemeinde Bothel mit 8.000 Einwohnern sind 41 Männer an Blut- und Lymphdrüsenkrebs erkrankt, fast doppelt so viele wie „normal“. In der Stadt Rotenburg mit 20.000 Einwohnern sind es 30 Prozent mehr.
Meist erkranken Männer über 60 Jahren. Krebsfachleute fordern, dass „etwas getan“ werden müsse. Leider konnten die Statistiker überhaupt gar nicht sagen, woran das liegt, woher es kommt, was die Ursache ist. Der im Diakonissenklinikum in Rotenburg praktizierende 79-jährige Betriebsarzt Matthias Bantz schrieb Anfang 2016, zusammen mit 212 Kollegen, einen „Brandbrief“ an die niedersächsische Gesundheitsministerin Cornelia Rundt (SPD) und verlangte eine gründliche und unabhängige Untersuchung der Ursachen.
Die Mediziner haben einen Verdacht, aber keine Beweise. Klar ist für Bantz nur: Je dichter die Menschen an der Erdgasförderung wohnen, desto größer ist die Anzahl von Krebsfällen. Er erläutert, dies sei statistisch nachweisbar, und zitiert Untersuchungen aus Kanada und den USA, wo im Bundesstaat New York 240 Ärzte den sofortigen Ausstieg aus dem Gasfracking gefordert haben. Erdgasförderung sei keine „saubere Sache“, weil fünf Prozent aller Bohrungen und Leitungen undicht seien, nach 30 Jahren sogar die Hälfte.
NABU-Präsident Olaf Tschimpke forderte nach dem Bekanntwerden einer erhöhten Krebsrate im niedersächsischen Erdgas-Fördergebiet einen Stopp der Erdgasförderung, bis die Ursachen geklärt sind. Für ihn ist es „grob fahrlässig“ und „absolut inakzeptabel“, jetzt über die Ausbeutung „unkonventioneller“ Lagerstätten mithilfe der Fracking-Technologie nachzudenken, solange die Folgen der konventionellen Förderung nicht kontrolliert werden können.
Wenn wir uns heute an die Opfer der Reaktorkatastrophe in Fukushima am 11. März 2011 erinnern, dann geht es nicht nur um die Vergangenheit. Mehr als 18.000 Menschen kamen damals unmittelbar ums Leben, 160.000 verloren im Zuge der Zerstörung und Verstrahlung ihre Heimat und Existenz. Sie leben bis heute entwurzelt teilweise in Containern, viele sind schwer krank. In Japan gedachten viele Menschen in einer Schweigeminute der Opfer. Das war verbunden mit Protestaktionen gegen den Weiterbetrieb atomarer Anlagen und die skrupellose Politik der japanischen Regierung, Menschen in die verseuchte Region um Fukushima zurück zu zwingen.
Der japanische Atomkraftgegner Kazuhiko Kobayashi berichtete in Deutschland über die dramatische Situation vor Ort und klärte über die große Gefahr der Atomtechnologie auf. Im Gespräch mit der „Umweltgewerkschaft“ klagte er an: „Die ganze Präfektur Fukushima ist weit höher radioaktiv kontaminiert als der bisher gültige Sicherheitsgrenzwert von einem Millisievert pro Jahr. Nun nennt die Regierung einfach einen 20-fach höheren Wert als ‚unbedenklich‘.“ Selbst dieser Wert werde in vielen Hot Spots in den genannten Gebieten locker übertroffen.
Man schätzt die Flüchtlinge auf 50.000. Die meisten von ihnen sind junge Mütter, die trotz größter finanzieller, familiärer und gesellschaftlicher Probleme aus Fukushima fliehen, um ihre Kinder zu schützen. Von diesen mutigen und verantwortungsbewussten Müttern sind die meisten hart betroffen und von der Öffentlichkeit in Stich gelassen. Sie leben heute in großer Armut, oft ohne Zukunftsperspektive. Das ist die Folge der verantwortungslosen, verbrecherischen Atompolitik Japans!
Ende März dieses Jahres wird auch die fast einzige Unterstützung eingestellt, die Regierung und Präfektur Fukushima diesen geflohenen Müttern und Kindern bis jetzt gegeben haben, nämlich bestimmte Sozialwohnungen in ihrem Wohnort mietfrei zur Verfügung zu stellen. Sie sagen, Fukushima sei sicher zu bewohnen, gebe also keinen Grund zur Flucht. Wenn sie dennoch weiter im Fluchtort bleiben wollten, sollten sie ab April entweder Miete zahlen oder die Wohnung verlassen. Atomkraftgegner Kobayashi ruft daher zu solidarischen Spenden für die hilflosen Mütter und Kinder auf.
Nach dem Willen der EU-Kommission soll der Bau von Atomreaktoren in Europa mit staatlichen Fördergeldern massiv vorangetrieben werden. Gerechtfertigt werden die Pläne damit, dass man den Kohlendioxidausstoß verringern und die Klimaziele erreichen wolle. Das ist eine durchsichtige Lüge im Interesse der Monopolprofite: Warum wird dann die Förderung erneuerbarer Energien zurückgefahren und der technisch schon lange mögliche Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energie weiter verzögert? Die EU-Kommission tischt der Öffentlichkeit zum tausendsten Mal die Lüge von der „sicheren Atomtechnologie“ auf.
Die Erfahrungen mit Atomkraftwerken aus 60 Jahren belegen, dass eine fehlerfreie Handhabung nicht möglich ist. Super- Atomkatastrophen wie in Harrisburg 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 sind nur die Höhepunkte der verheerenden Reaktor- Geschichte. Es ist unvermeidlich, dass bei laufendem Betrieb Reaktoren permanent radioaktive Strahlung freisetzen. Kernspaltungen im Inneren des Reaktors lassen sich nicht absolut von der Außenwelt abschotten. Radioaktives Tritium dringt selbst durch Stahl- und Betonwände. Bei Entnahme, Transport und Wiederaufbereitung von Brennelementen werden radioaktive Stoffe frei.
Bis heute gibt es nirgendwo ein auch nur annähernd akzeptables Modell, was mit dem giftigen Abfall passieren soll, der teils noch Millionen Jahre strahlen wird. Zu den bereits mehr als 300.000 Tonnen hoch strahlenden Abfalls kommen jährlich etwa 12.000 Tonnen hinzu. „Allein in Europa sind über 100 Atomkraftwerke in Betrieb. Im Falle eines Super-GAU kann in kürzester Zeit ein Großteil Europas unbewohnbar werden. Mehr als 500 Millionen Menschen werden direkt mit ihrem Leben gefährdet. Technische Fehler, menschliches Versagen, Terrorangriffe: Es gibt viele Möglichkeiten, die unvorstellbare Katastrophen verursachen“, so Atomkraftgegner Kobayashi.
Aus Profitgier hinterlässt die Atomindustrie der Menschheit auf Zigtausende Jahre eine unglaubliche zerstörerische Last, bis zur Gefahr der Vernichtung der Menschheit. Wenn wir heute hier stehen, verbindet sich unser Gedenken mit einem klaren Nein zum Ausbau der Atomkraftwerke in Europa und einem klaren Ja zu hundertprozentig erneuerbaren Energien. Der Widerstand von Millionen hat die Merkel-Regierung 2011 gezwungen, acht Atomkraftwerke in Deutschland abzuschalten. Dieser Weg ist die einzige Chance, um die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen weltweit durchzusetzen!