SPIEGEL ONLINE - 02. Oktober 2005, 13:17
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Große Koalition
 
Die Musik spielt ohne Merkel und Schröder

Von Franz Walter

Natürlich wird die Große Koalition kommen. Aber was bedeutet das für die Gesellschaft: Reformen, zu denen weder die rot-grüne Allianz noch zuvor die Regierung Kohl in der Lage waren? Oder Stillstand, wie es Alt-68er und ungeduldige Neu-Liberale gern erzählen?

Wahrscheinlich ist es ganz banal: die Große Koalition wird zum Abschluss bringen, was die Regierungen davor begonnen haben. Denn im Grunde läuft es exakt so mit allen Regierungswechsel ab, jedenfalls in Deutschland. In der bundesdeutschen Geschichte haben Regierungswechsel nie die von den politischen Akteuren prahlerisch versprochene Epochenzäsur eingeleitet, sondern im Gegenteil gesellschaftlich längst vollzogene Prozesse nur noch beendet. Neue Regierungen in Deutschland entsorgen, was als sperriger Rest aus einer vergangenen Zeit störend im Weg liegt. Doch schon zwei oder drei Jahre nach Regierungsantritt bekommen sie mit Problemen zu tun, auf die sie in keiner Weise vorbereitet sind.

All das zum Beispiel, was so viele Menschen mittleren und fortgeschrittenen Alters sentimental liebevoll mit dem sozialliberalen Aufbruch konnotieren, lag in den sechziger Jahren, keineswegs in den Siebzigern. Das Ende der Hallstein-Reform, die neue provozierende Popkultur, der Protest von jungen Bildungsbürgern, die Revolte von Theaterleuten und Regisseuren, das Pathos von Demokratisierung und Partizipation - die schönste und unschuldigste Zeit von alledem lag irgendwo zwischen 1962 und 1968.

Dagegen setzte bereits in den frühen siebziger Jahren die sogenannte Tendenzwende ein. Die unter dem CDU-Kanzler Kiesinger noch fröhlich florierende Wertschätzung für Reformen stürzte 1973 ins Bodenlose; die Bildungsreformer verloren für Jahrzehnte die Schlachten um Gesamtschulen und 'progressive' Rahmenrichtlinien; die liberale Justizreform unter Gustav Heinemann wurde während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt wieder zurückgedreht; Ordnung, Sicherheit, Berechenbarkeit waren die politischen Kernmaximen in den letzten acht Jahren der sozialliberalen Ära. Als Kohl Kanzler wurde, war die geistig-moralische Wende längst exekutiert. Wirtschaftspolitisch setzte Kohl lediglich die Angebots- und Austeritätspolitik seines Vorgängers fort; sicherheitspolitisch setzte er den Nachrüstungsbeschluss um, den Schmidt ursächlich angestoßen und vorangetrieben hatte.

Die bundesdeutsche Gesellschaft während der achtziger Jahre aber war in ihren meinungsprägenden Bereichen rot-grün. Postmaterialistischer als unter Kohl - in dieser alternativ-hedonistischen Zeit 'Bunter Listen', neuer Gleichstellungsbeauftragten und rot gestrichener Fahrradwege - ging es in Deutschland nie mehr zu. Und so ereignete sich 1998 das, was wir schon bei dem Regierungswechsel 1969 und 1982 erlebt hatten: da kamen Menschen in das Kabinett, über die und deren lebensgeschichtliches Programm die Zeit im Kern schon weit hinweg geschritten war.

Kein Aufbruch zu neuen Ufern

Gerade deshalb sollten die einen für die nächsten vier Jahre nicht so viel erhoffen, die anderen nicht zu sehr in apokalyptische Schreckensszenarien verfallen. Die Große Koalition beginnt ersichtlich als zähe Veranstaltung, aber sie wird, ins Amt gekommen, auch zeitgemäße Versionen von Plisch und Plum (seinerzeit in der ersten Großen Koalition: Schiller und Strauß) hervorbringen. Müntefering und Schäuble, Steinbrück und Merz, oder wer auch immer, könnten entschlossen handelnde christdemokratisch-sozialdemokratische Synergiepartner werden, die das erledigen, wozu Schröder und Fischer zuletzt nicht mehr die Kraft und Mehrheiten hatten. 2007 dürfte der Agenda-Rest aus der rot-grünen Ära verarbeitet sein. Das wird es dann aber auch gewesen sein.

Den Aufbruch zu neuen Ufern einer deregulierten Republik und der permanenten Reform werden wir jedenfalls nicht erleben. Denn auch wenn es kaum einer in diesem missmutigen Land wahrhaben will: Das hatten wir schon. Seit zwei Jahrzehnten erzählen uns schließlich die professoralen und kommentierenden Meinungseliten Tag für Tag, Stunde für Stunde, dass das Land krank sei, dass allein die bittere Medizin tiefer und schmerzhafter Einschnitte in den Sozialstaat Remedur verschaffen könne. Jeder kennt schließlich diesen Refrain. Und im Laufe der Zeit konnte sich kaum jemand dem suggestiven Trommelfeuer entziehen, auch die rot-grünen Halblinken von ehedem nicht. Da aber das Lamento über 'the German Disease' unverdrossen anhielt, blieb fast unbemerkt, wie sehr sich das Land verändert hat.


Bald ein Fünftel der Deutschen arbeitet mittlerweile im Niedriglohnsektor. Streiks gibt es in diesem Land so gut wie nicht mehr. Die Lohnstückkosten sind drastisch gesunken, stärker als in den weithin gerühmten angelsächsischen Ländern. Der Telekommunikations- und Energiesektor ist natürlich privatisiert. Die Ausgabenquoten für die Rentenversicherung und den Gesundheitsbereich rangieren ebenfalls unter dem EU-Mittel. Die sozialstaatlichen Ansprüche für den einzelnen Bürger sind in den letzten Jahren keineswegs gewachsen, sondern rapide zurückgefahren worden. Für Kapitalgesellschaften ist Deutschland nahezu ein Steuerparadies. Jahr für Jahr wird ein Anteil von einem Prozent der öffentlichen Bediensteten abgebaut, so dass von einer krakenhaft wuchernden Bürokratisierung ernsthaft nicht die Rede sein kann. Und so sind auch die internationalen Expertengremien neuliberalen Ursprungs außerordentlich zufrieden mit den Deutschen, die mittlerweile gar als die Musterknaben der "Reform" gelten.

Schrei nach Aufbruch - dabei ist die Republik schon unterwegs

Natürlich, die deutsche Republik ächzt unter den riesigen Lasten der Vereinigung, genauer: unter der verschwenderischen Bedenkenlosigkeit, mit der seinerzeit der christdemokratische Bundeskanzler die Einheit zutiefst populistisch geschmiert und die Sozialkassen ausgeplündert hatte. Doch mit einem Mangel an Reformen haben die Riesendefizite, die seither das Land plagen, nicht das Geringste zu tun. Auch im Jahr 2005 liegt die Arbeitslosigkeit im Westen Deutschland unter dem Durchschnitt der Länder in der Europäischen Union, liegt die ökonomische Performance im oberen Mittelfeld der modernen Volkswirtschaften.

Eben das macht das neuliberale Dauerschwadronieren im täglichen Zeitungskommentar so anachronistisch. Die Radikalinnovateure schreien nach Aufbruch, während die Republik ganz unspektakulär, aber handfest längst schon unterwegs ist - weiter auch als die Rhetoren und Macher der Politik. Eigentlich beginnt jetzt schon eine neue Wegstrecke, die aber die Kardinäle des unentwegten Marktreformismus gar nicht im Visier haben. Man kann das Problem auch gut in der wohlfeilen BWL-Sprache formulieren, also ökonomisch: der neuliberale Dauerdiskurs der letzten zwanzig Jahre und die Veränderung in Politik und Wirtschaft, die dadurch entstanden sind, haben gewissermaßen zu einer Überproduktion in manchen Bereichen der Gesellschaft geführt, zu einer Unterversorgung aber in anderen Sektoren. Es gibt in Deutschland wie in den meisten Teilen der modernen Welt keineswegs einen weiteren riesigen Bedarf an Wettbewerb, Markt, an Autonomie des Einzelnen, an Destrukturierung. Von alledem haben die modernen Gesellschaften mehr als genug. Daher beklagen jetzt schon die meisten "reformierten" Gesellschaften, und bald gewiss auch die Deutschen, den jämmerlichen, maroden Zustand der öffentlichen Güter. Die puristische Marktobsession der Meinungs-, Wissenschafts- und Wirtschafteliten mag diesen Zerfallsprozess noch beschleunigen. Denn der Markt ist gänzlich uninteressiert an einer Sicherung sozialer, ökologischer und kultureller Güter.

Doch dadurch wird die Polarisierung in der Gesellschaft weiter und sprunghaft anwachsen. Die großindustrielle Gesellschaft, von der wir uns gerade verabschieden, hat in seiner entwickelten und sozialstaatlich gebändigten Form im 20. Jahrhundert noch zu einer starken Angleichung der Lebenslagen zwischen den Schichten geführt, zu Öffnungen und Durchlässigkeiten für den sozialen Aufstieg, zu einem Abbau elementarer Ungleichheiten. Die postindustrielle Gesellschaft funktioniert anders; in ihr öffnet sich ein tiefer, weder durch solidarische Milieus noch durch klassenübergreifende Organisationen überbrückter Wohlstands- und Chancengraben. Die einen kommen in den Genuss der unzweifelhaft zahlreichen Optionen, erweiternden Perspektiven, facettenreichen Chancen, welche die Globalgesellschaft den Bildungsreichen und Mobilen bietet. Die anderen, die keineswegs wenigen Bildungs-, Kontakt- und Kompetenzarmen sind abgehängt, fühlen sich entbehrlich, durch Arbeitsagenturen gedemütigt, ohne die geringsten sozialen Mobilitäts- und Aufstiegschancen, die einst sowohl den sozialen Katholizismus als auch der sozialistischen Arbeiterbewegung programmatische Leitidee war.

Keines der Probleme steht auf der Agenda von SPD und Union

Die postindustrielle Gesellschaft des Neuliberalismus, kurzum, ist zerfurchter, für die Nicht-Privilegierten hoffnungsloser als die alte katholisch-sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit. Die Zusammenhänge zwischen den Gruppen sind poröser, die gesellschaftlichen Bindungen fragiler. Die diskursive Interaktion zwischen oben und unten nimmt ab. Der Trend in den Globalisierungseliten geht keineswegs zu flacheren Hierarchien und Mitarbeiterbeteiligungen, sondern zu straffer, zentralisierter Führung. Unter den hoch beschleunigten Bedingungen dynamischer Informationsvermittlung und Finanztransfers gilt ihnen Teilhabe und Demokratie als störend und daher ineffizient.

Kurzum: das Land steht in der Tat vor bitter ernsten Problemen. Doch keines dieser Probleme - die neue Klassenbildung und soziale Polarisierung, die Aufstiegs- und Mobilitätssperren nach unten, der Zerfall sozial vertikaler Vernetzungen, die neue oligarchische Machtzentralisierung - steht auf der Agenda der beiden Großparteien (erst recht nicht der besserverdienenden Grünen und Liberalen) und damit der neuen Regierung. Sie ist, wie auch die Meinungseliten, geistig darauf nicht im Geringsten vorbereitet. Die Republik aber braucht eine intelligente, sicher effiziente, gewiss moderne, aber doch robuste Re-Regulierung von Institutionen, braucht die empathische Rekonstruktion von integrativer Sozialmoral und brückenschlagenden Organisationen auch in die Kellergeschosse der postindustriellen Wohlständigkeit hinein.

Ein großer Teil der bundesdeutschen Gesellschaft diesseits der sozialignoranten Eliten wird all dies in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunehmend und heftig einfordern. Man kann diesen Mentalitätswechsel schon jetzt in anderen europäischen Staaten prägnant beobachten. Irgendwann mag aus einer solchen neuen Mentalität auch in Deutschland wieder eine ganz neue politische Koalitionsmehrheit erwachsen. Doch auch dann wird der Regierungswechsel keine Epochenzäsur begründen. Denn das ist schon ein markantes Signum der Moderne: die Politik kommt ganz überwiegend zu spät. Insofern sollte man Frau Merkel und Herrn Schröder auch gar nicht so viel Aufmerksamkeit schenken. Die gesellschaftliche Musik der Zukunft spielt längst schon woanders.
 


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