SPIEGEL ONLINE - 19. September 2005, 17:10
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Wahlprognosen
 
Richtig liegen ohne Volksbefragung

Während Deutschlands Wahlforscher beginnen, die Wähler zu beschimpfen, haben zwei Wissenschaftler eine bessere Vorhersage für den Wahlausgang geliefert als alle Demoskopen - ohne einen einzigen Wähler zu befragen. Entscheidungen hängen von langfristigen Entwicklungen ab, sagen sie.

Thomas Gschwend und Helmut Norpoth haben schon wieder recht gehabt. Fast zumindest. Bei der letzten Wahl haben die beiden aufs Zehntelprozent genau vorhergesagt, wie die rot-grüne Koalition bei der Wahl abschneiden würde. Und auch diesmal waren sie näher dran als alle großen Wahlforschungsinstitute: 42 Prozent für Rot-Grün lautete ihre Prognose - und zwar am 23. August. Dabei haben Gschwend und Norpoth keinen einzigen Wähler befragt. Sie sind sicher, dass lang- und mittelfristige Entwicklungen einen viel größeren Einfluss auf den Wahlausgang haben, als uns die hektischen, ständig korrigierten Ergebnisse der Meinungsforscher glauben machen wollen.

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis liegen die Koalitionsparteien zusammen bei 42,4 Prozent - Gschwend und Norpoth lagen also um nur 0,4 Prozent daneben. Infratest hatte am 8. September 41 Prozent vorhergesagt, die Forschungsgruppe Wahlen am 9. September ebenfalls, Allensbach gar nur 39,5 Prozent. Einzig Forsa sagte ebenfalls 42 Prozent für Rot-Grün voraus. Die großen Institute hatten harte, aktuelle Daten, haben Tausende befragt, um zu ihren Prognosen zu kommen. Gschwend und Norpoth haben nur ein statistisches Modell.

Wählerverhalten "für die Demoskopen unbefriedigend"

Während sich also die Parteien die Köpfe über Koalitionen zerbrechen, lecken die Meinungsforscher ihre Wunden - und suchen die Schuld beim Wähler. Der habe sich nicht an das gehalten, was er vor der Wahl versprochen habe, schimpfte etwa Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach gegenüber der Agentur AP. Es sei "ein Novum", dass Wähler von den in Umfragen geäußerten Absichten abwichen. Das Verhalten der Wähler sei für die Demoskopen unbefriedigend. Eine Wiederholung müsse vermieden werden, weshalb sogar eine Revision der Umfragemethoden erwogen werde. Richard Hillmer von Infratest-dimap sprach gar von der "zittrigen Hand" des Wählers.

Thomas Gschwend, der am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung arbeitet, hat Verständnis für die Nöte der Kollegen: "Die haben eine viel schwierigere Aufgabe als wir". Denn Gschwend und sein früherer Doktorvater, der Deutsch-Amerikaner Helmut Norpoth von der Stony Brook University im Staat New York, wollen keine Meinungsforschung betreiben - sie stellen sozialwissenschaftliche Vorhersagemodelle auf. Mit erstaunlich schlichten Ausgangsdaten: Für längerfristige Entwicklungen steht in ihrem Modell der Ausgang der vergangenen drei Bundestagswahlen; für mittelfristige die Anzahl der Legislaturperioden, die eine Koalition oder Regierungspartei schon hinter sich hat - "Regieren kostet Stimmen", sagt Gschwend; für kurzfristige Einflüsse geht eine einzige aktuelle Zahl in die Voraussage ein: Die mittlere Popularität des Kanzlers in den zwei Monaten vor der Wahl. Die deutschen Wahlergebnisse seit 1953 hat man auf diese Weise analysiert - jede weitere Wahl liefert Daten, mit denen das Verrechnungsmodell für die drei Faktoren noch genauer angepasst, die Vorhersagen noch präziser gemacht werden können.

"Das Kurzfristige wird überbewertet"

Bei der aktuellen Entscheidung wurde zusätzlich das Auftauchen der Linkspartei einkalkuliert - man zog kurzerhand deren Zustimmungswerte von Schröders Kanzlerpopularität ab. Das aber genügte. "Das Kurzfristige wird überbewertet", sagt Gschwend.

Haben also Kirchof, Steuerwirrwarr, Angst vor sozialer Kälte gar keine Rolle gespielt? Sind wir Wähler in Wahrheit eine träge, durch grobe und langsame Stimmungsänderungen bestimmte Masse? Zum Teil stimme das, sagt Gschwend, der Streit um Paul Kirchhof etwa sei womöglich nur "ein Katalysator" gewesen für eine zunehmende Skepsis gegenüber Schwarz-Gelb, die sich nur langsam Bahn gebrochen habe. Aber das sei Spekulation: "Wir sind nicht an Episodischem interessiert."

Schröder ist ein Fan

Es gehe darum "über die Zeit hinweg Systematiken zu entdecken", erklärt Schwend - und die scheint es tatsächlich zu geben. Viel von dem, was der Wähler tut oder nicht tut, ist wohl kaum Ergebnis des Wahlkampfes, sondern längerfristiger Entwicklungen. Kurz vor der Wahl allerdings ginge es stets auch darum, die Popularität eines amtierenden Kanzlers in Stimmen für eine Partei umzusetzen - das kommt einem irgendwie bekannt vor.

Und in der Tat: Gerhard Schröder ist ein Fan der Propheten aus Mannheim. Nach der Wahl 2002 hat er Gschwend sogar ins Kanzleramt eingeladen, um sich dessen Modell erklären zu lassen.

Bei allen Denkanstößen allerdings, die das Modell von Norpoth und Gschwend bietet - eines können die beiden auch nicht: Eine umfassende Prognose für den Wahlabend liefern. Denn ihr Modell erlaubt nur Vorhersagen für derzeit amtierende Regierungen. Für die Opposition ließe sich natürlich weder der Faktor "Abnutzung im Amt" noch die Popularität eines aktuellen Kanzlers ermitteln. Auch die desaströsen Verluste der Union gegenüber den letzten Umfragen hätte das Modell also nicht vorhersagen können.

Christian Stöcker
 


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DER SPIEGEL 38/2005 - 19. September 2005
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Demoskopie
 
Dichter Nebel

Von Merlind Theile

Die Prognosen der Umfrageinstitute wichen noch stärker als 2002 vom Ergebnis ab - die Resultate von FDP und Union machten die Daten der Meinungsforscher im Nachhinein wertlos.

Einen erstaunlichen Erfolg, ja sogar ein zweistelliges Ergebnis meldete ein Umfrageinstitut ein paar Tage vor der Wahl für die Liberalen. Bei 10,1 Prozent sahen die Allensbacher Demoskopen die FDP in ihrer vorletzten Prognose vor dem Urnengang - allerdings im Jahr 2002. Tatsächlich erreichten die Freidemokraten bei der Parlamentswahl vor drei Jahren nur 7,4 Prozent. Die Allensbacher hatten gehörig danebengelegen.

Im Jahr 2005 hat sich die Geschichte nun wiederholt, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen: Der überraschende Stimmenzugewinn der FDP hat dieses Mal alle Meinungsforscher kalt erwischt - auch das Allensbacher Institut, das den Wert der Liberalen in seiner zwei Tage vor der Wahl veröffentlichten Prognose mit acht Prozent zwar höher als alle anderen taxierte, das reale FDP-Ergebnis von 9,8 Prozent aber auch noch deutlich verfehlte.

Was die FDP am Sonntag an Boden gutmachen konnte, hat die Union verloren. Nur 35,2 Prozent der Zweitstimmen entfielen auf CDU und CSU. Eine derart niedrige Zahl wurde von keinem vorausgesagt: Die fünf großen deutschen Meinungsforschungsinstitute sahen die Union allesamt bei mindestens 41 Prozent.

Für die Demoskopen sind diese Ergebnisse ein ziemliches Desaster. Die Bilanz ihrer Wahlprognosen, in denen sie immerhin den Stimmenanteil des linken Lagers relativ präzise ermittelten, wird durch das starke Abschneiden der FDP und den Stimmenverlust der Union erheblich getrübt. In der Summe verfehlten die Vorhersagen das Endergebnis der Parlamentswahl dieses Mal noch eklatanter als 2002, als das Allensbach-Institut mit einem Abweichungswert von 7,2 am weitesten danebenlag - und bereits damals galt die aus heutiger Sicht fast schon moderate Fehleinschätzung der Institute als Debakel.


Die Bundestagswahl 2005 ist somit ein weiterer Tiefschlag für eine Branche, die bei Politikern und Medien vor allem deshalb beliebt ist, weil sie einen Blick in die Zukunft zu erlauben scheint. Viele Demoskopen bedienen diese Erwartungshaltung gern, auch wenn sie leise hinzufügen, dass sie ja nur Momentaufnahmen lieferten.

An ihren Methoden zweifeln die Meinungsforscher nicht. Aus Sicht der Demoskopen ist ein anderer Faktor für die hohen Abweichungen zwischen Voraberhebung und Wirklichkeit verantwortlich: der Wähler, das wankelmütige Wesen.

Deutschlands gesellschaftlicher Wandel und das Verschwinden festgefügter Milieus und Parteizugehörigkeiten, von Wissenschaftlern seit den siebziger Jahren registriert, machen Wahlprognosen immer schwieriger. Die Zahl der lange unentschlossenen Last-Minute-Wähler wächst. Richard Hilmer vom Institut TNS Infratest schätzte ihren Anteil noch in der vergangenen Woche auf 20 Prozent. Weitere 12 Prozent hätten angegeben, sie hätten zwar eine Meinung, könnten es sich im letzten Moment aber noch anders überlegen. "Vor drei Jahren waren dagegen kurz vor der Wahl höchstens 13 Prozent der Stimmberechtigten unentschlossen", so Hilmer. Sein Fazit: "Der Nebel ist diesmal noch dichter."

Torsten Schneider-Haase von TNS Emnid urteilte in der Woche vor der Wahl noch drastischer: "Die Stimmungen verschieben sich heute so schnell, dass es Zufall wäre, wenn ein Institut diesmal ein richtiges Ergebnis hätte." Und auch Edgar Piel von Allensbach ließ Zweifel an der Verlässlichkeit der Erhebungen aufkommen. "Demoskopen sind wie Dart-Profis, die alle ihr Werkzeug beherrschen", so Piel. "Das heißt aber noch lange nicht, dass sie immer ins Schwarze treffen."

Zuverlässiger als alle demoskopischen Werkzeuge wie Telefonumfragen und mathematische Gewichtungen scheint dagegen die Methode eines Wissenschaftlers vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung zu sein. Thomas Gschwend kalkuliert das Ergebnis der Regierungsparteien, indem er den Mittelwert der vergangenen drei Bundestagswahlen mit dem Popularitätswert des Kanzlers und einem "Abnutzungseffekt" verrechnet, den das Regieren mit sich bringt. Im Jahr 2002 traf er mit seiner Prognose von 47,1 Prozent exakt das Endergebnis, und für die aktuelle Wahl errechnete er schon Mitte August glatte 42 Prozent für Rot-Grün, womit er sehr nah an die jetzt 42,4 Prozent herankam.

Die eigentlichen Überraschungen dieser Wahl, also die Ergebnisse von Union und FDP, konnte Gschwend mit seiner Methode allerdings auch nicht vorhersagen.
 


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SPIEGEL ONLINE - 20. September 2005, 12:47
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Umfrage
 
Deutsche mit Wahlausgang unzufrieden

Kaum haben sie gewählt, da sind die Deutschen schon wieder unzufrieden mit ihrer Wahl. Laut einer aktuellen Umfrage äußert sich weniger als ein Viertel der Befragten positiv über den Ausgang. Wenn schon, sagt die Mehrheit, dann die Große Koalition.

Wahlen in Oberbayern: Deutsche sind unzufrieden mit ihrer Entscheidung
Berlin - Mehr als zwei Drittel der Deutschen sind mit dem Ergebnis der Bundestagswahl unzufrieden. Nur etwa 23 Prozent der 1111 von der Forschungsgruppe Wahlen Interviewten äußerten sich bei einer Telefonumfrage am Montag positiv über den Wahlausgang. Besonders unzufrieden seien die FDP-Anhänger (88 Prozent) dicht gefolgt von Unions-Sympathisanten (81 Prozent). Aber auch 69 Prozent der Linkspartei-Wähler, 68 Prozent aus den Reihen der Grünen und die Mehrheit der SPD-Anhänger zeigten sich über den Wählerwillen eher enttäuscht.

Nach der Bundestagswahl 1998 waren 60 Prozent, 2002 noch 45 Prozent aller Bundesbürger zufrieden mit dem Wahlausgang. Laut einer Forsa-Umfrage von gestern spricht sich allerdings eine große Mehrheit gegen nochmalige Neuwahlen aus: 73 Prozent der Befragten gaben an, die Parteien sollten sich einigen. Nur 25 Prozent wünschten sich aufgrund der unklaren Mehrheitsverhältnisse einen weiteren Urnengang.

In der Debatte um mögliche Regierungsbündnisse spricht sich laut Umfrage rund ein Drittel der Befragten für eine große Koalition aus. 26 Prozent favorisieren ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen, also die sogenannte "Jamaika-Koalition". Weniger als ein Fünftel halten eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen für die beste Lösung. Eine rot-rot-grüne Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen kommt nur für neun Prozent in Frage.

Im Falle einer großen Koalition wünscht sich die Hälfte der Befragten Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) als Regierungschef. 43 Prozent wollen dagegen Angela Merkel (CDU) als Bundeskanzlerin.

Kritik an deutschen Wahlforschern

Nach dem Debakel der Demoskopen am Sonntag stellt das weltweit größte Umfrageunternehmen Gallup inzwischen die Qualität der deutschen Meinungsforschungs-Institute in Frage. Der Geschäftsführer der Niederlassung von Gallup in Deutschland, Gerald Wood, erklärte, dass "möglicherweise nicht alle Aspekte der Repräsentativität befolgt worden seien", wie die in Erfurt erscheinende "Thüringer Allgemeine" berichtete.

Er wolle "keine Kollegenschelte betreiben", sagte Wood weiter. Aber in der Parteinähe deutscher Umfrageinstitute sehe er doch ein "ernsthaftes Problem". Es sei aus demoskopischer Sicht sehr wichtig, "dass man da klar trennt". Die pauschale Kritik an Meinungsforschern lehnte Wood indes ab. "Wir glauben, dass die Menschen noch viel mehr gehört werden müssten."

Mit der letzten Umfrage zehn Tage vor der Wahl habe man sehr richtig gelegen, sagte Infratest-Geschäftsführer Hilmer dagegen im Deutschlandradio Kultur. Die Wahlprognose für das linke Lager - SPD, Grüne und Linkspartei - sei fast "eine Punktlandung" gewesen. Auch mit der Vorhersage für das bürgerliche Lager - CDU und FDP - habe man insgesamt richtig gelegen. Falsch sei nur das Verhältnis der Stimmanteile beider Parteien gewesen. Solche Abweichungen seien aber nicht überraschend: "Mit solchen kurzfristigen Verschiebungen müssen wir in der Tat rechnen, weil es immer mehr Wähler und Wählerinnen gibt, die eben strategisch wählen."

Die traditionelle Bindung bestimmter Milieus an Parteien habe zudem abgenommen, sagte Hilmer. Angesichts einer schwankenden Grundstimmung seien aber Vorhersagen schwierig. So hätte es laut Hilmer die Genauigkeit nicht verbessert, wenn die letzten Prognosen erst kurz vor der Wahl erhoben worden wären: "Dann können Sie noch so nah herangehen, dann müssen Sie schon mit dem Wähler in die Wahlkabine gehen."
 

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