Wahlprognosen
Richtig liegen ohne
Volksbefragung
Während Deutschlands Wahlforscher beginnen, die
Wähler zu beschimpfen, haben zwei Wissenschaftler eine bessere Vorhersage für
den Wahlausgang geliefert als alle Demoskopen - ohne einen einzigen Wähler zu
befragen. Entscheidungen hängen von langfristigen Entwicklungen ab, sagen
sie.
Thomas Gschwend und
Helmut Norpoth haben schon wieder recht gehabt. Fast zumindest. Bei der letzten
Wahl haben die beiden aufs Zehntelprozent genau vorhergesagt, wie die rot-grüne
Koalition bei der Wahl abschneiden würde. Und auch diesmal waren sie näher dran
als alle großen Wahlforschungsinstitute: 42 Prozent für Rot-Grün lautete ihre
Prognose - und zwar am 23. August. Dabei haben Gschwend und Norpoth keinen
einzigen Wähler befragt. Sie sind sicher, dass lang- und mittelfristige
Entwicklungen einen viel größeren Einfluss auf den Wahlausgang haben, als uns
die hektischen, ständig korrigierten Ergebnisse der Meinungsforscher glauben
machen wollen.
Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis liegen die
Koalitionsparteien zusammen bei 42,4 Prozent - Gschwend und Norpoth lagen also
um nur 0,4 Prozent daneben. Infratest hatte am 8. September 41 Prozent
vorhergesagt, die Forschungsgruppe Wahlen am 9. September ebenfalls, Allensbach
gar nur 39,5 Prozent. Einzig Forsa sagte ebenfalls 42 Prozent für Rot-Grün
voraus. Die großen Institute hatten harte, aktuelle Daten, haben Tausende
befragt, um zu ihren Prognosen zu kommen. Gschwend und Norpoth haben nur ein
statistisches Modell.
Wählerverhalten "für die Demoskopen
unbefriedigend"
Während sich also die Parteien die Köpfe über
Koalitionen zerbrechen, lecken die Meinungsforscher ihre Wunden - und suchen die
Schuld beim Wähler. Der habe sich nicht an das gehalten, was er vor der Wahl
versprochen habe, schimpfte etwa Renate Köcher vom Institut für Demoskopie
Allensbach gegenüber der Agentur AP. Es sei "ein Novum", dass Wähler von den in
Umfragen geäußerten Absichten abwichen. Das Verhalten der Wähler sei für die
Demoskopen unbefriedigend. Eine Wiederholung müsse vermieden werden, weshalb
sogar eine Revision der Umfragemethoden erwogen werde. Richard Hillmer von
Infratest-dimap sprach gar von der "zittrigen Hand" des Wählers.
Thomas
Gschwend, der am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung arbeitet,
hat Verständnis für die Nöte der Kollegen: "Die haben eine viel schwierigere
Aufgabe als wir". Denn Gschwend und sein früherer Doktorvater, der
Deutsch-Amerikaner Helmut Norpoth von der Stony Brook University im Staat New
York, wollen keine Meinungsforschung betreiben - sie stellen
sozialwissenschaftliche Vorhersagemodelle auf. Mit erstaunlich schlichten
Ausgangsdaten: Für längerfristige Entwicklungen steht in ihrem Modell der
Ausgang der vergangenen drei Bundestagswahlen; für mittelfristige die Anzahl der
Legislaturperioden, die eine Koalition oder Regierungspartei schon hinter sich
hat - "Regieren kostet Stimmen", sagt Gschwend; für kurzfristige Einflüsse geht
eine einzige aktuelle Zahl in die Voraussage ein: Die mittlere Popularität des
Kanzlers in den zwei Monaten vor der Wahl. Die deutschen Wahlergebnisse seit
1953 hat man auf diese Weise analysiert - jede weitere Wahl liefert Daten, mit
denen das Verrechnungsmodell für die drei Faktoren noch genauer angepasst, die
Vorhersagen noch präziser gemacht werden können.
"Das Kurzfristige
wird überbewertet"
Bei der aktuellen Entscheidung wurde zusätzlich
das Auftauchen der Linkspartei einkalkuliert - man zog kurzerhand deren
Zustimmungswerte von Schröders Kanzlerpopularität ab. Das aber genügte. "Das
Kurzfristige wird überbewertet", sagt Gschwend.
Haben also Kirchof,
Steuerwirrwarr, Angst vor sozialer Kälte gar keine Rolle gespielt? Sind wir
Wähler in Wahrheit eine träge, durch grobe und langsame Stimmungsänderungen
bestimmte Masse? Zum Teil stimme das, sagt Gschwend, der Streit um Paul Kirchhof
etwa sei womöglich nur "ein Katalysator" gewesen für eine zunehmende Skepsis
gegenüber Schwarz-Gelb, die sich nur langsam Bahn gebrochen habe. Aber das sei
Spekulation: "Wir sind nicht an Episodischem interessiert."
Schröder
ist ein Fan
Es gehe darum "über die Zeit hinweg Systematiken zu
entdecken", erklärt Schwend - und die scheint es tatsächlich zu geben. Viel von
dem, was der Wähler tut oder nicht tut, ist wohl kaum Ergebnis des Wahlkampfes,
sondern längerfristiger Entwicklungen. Kurz vor der Wahl allerdings ginge es
stets auch darum, die Popularität eines amtierenden Kanzlers in Stimmen für eine
Partei umzusetzen - das kommt einem irgendwie bekannt vor.
Und in der
Tat: Gerhard Schröder ist ein Fan der Propheten aus Mannheim. Nach der Wahl 2002
hat er Gschwend sogar ins Kanzleramt eingeladen, um sich dessen Modell erklären
zu lassen.
Bei allen Denkanstößen allerdings, die das Modell von Norpoth
und Gschwend bietet - eines können die beiden auch nicht: Eine umfassende
Prognose für den Wahlabend liefern. Denn ihr Modell erlaubt nur Vorhersagen für
derzeit amtierende Regierungen. Für die Opposition ließe sich natürlich weder
der Faktor "Abnutzung im Amt" noch die Popularität eines aktuellen Kanzlers
ermitteln. Auch die desaströsen Verluste der Union gegenüber den letzten
Umfragen hätte das Modell also nicht vorhersagen können.
Christian
Stöcker
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