516. Bremer Montagsdemo
am 20. 04. 2015  I◄◄  ►►I

 

516. Bremer Montagsdemonstration und Trauerkundgebung gegen das Sterbenlassen im Mittelmeer (um 17:49 Uhr)
516. Bremer Montagsdemonstration und Trauerkundgebung
gegen das Sterbenlassen im Mittelmeer (um 17:49 Uhr)

 

Demonstration gegen die
Europa-Flüchtlingspolitik

Wie das Web-Cam-Bild zeigt, war der Marktplatz gut gefüllt, als die Mitstreiter der Montagsdemo um 17:30 Uhr kamen. Es hatte schon Vorschläge gegeben, uns dem Protest von circa 2.000 Teilnehmern, der durch die aktuellen Katastrophenberichte vom Mittelmeer aktuell verstärkt wurde, anzuschließen. Nach Beratung mit fast allen Teilnehmern haben wir uns beteiligt. Ein erster Schritt war das Angebot, mit unserer Lautsprecheranlage die akustische Ausstrahlung zu verstärken, was gerne angenommen wurde.

Jobst RoseliusNach Redebeiträgen der Veranstalter von „No Lager“ fand dann die Demonstration vom Marktplatz zum Sitz des Innensenators an der Contrescarpe statt. Dort gab es weitere Redebeiträge, die wir wieder mit unserer Lautsprecheranlage weiter verbreiteten. Verlesen wurde eine Stellungnahme des Innensenators Mäurer, in der er eine Veränderung der EU-Flüchtlingspolitik fordert. Die Mitstreiter für eine andere Flüchtlingspolitik in Europa und in Bremen werden diese Aussagen zum Maßstab nehmen in der weiteren Aktivität.

Eindrucksvoll und berührend war der Redebeitrag eines ehemaligen afrikanischen Flüchtlings, der diese ganze Dramatik, diese Angst und den Kampf um richtiges Verhalten unter den Flüchtlingen in den Booten, damit sie nicht kentern, so einfühlend darstellen konnte. Es waren auch kleine Kinder bei der Demonstration, deren natürliches Interesse und Verhalten deutlich machte, welche Kraft die Eltern und „Mitreisenden“ brauchen, um solche Strapazen heil zu überstehen. Wir alle trauern mit den Überlebenden und den Familien in fernen Ländern um die nicht zu zählenden Toten. Lautstark und kämpferisch ging es dann noch durch das Viertel zum Ziegenmarkt.

Die Anlässe wie heute werden immer kurzfristiger und vielfältiger, wo sich Gegner der herrschenden Politik gemeinsam wehren und wehren werden, mal zu diesem, mal zu jenem Thema. Wir wollen die Mitstreiter, die nicht mitgegangen sind, weiter überzeugen, dass sie sich der Vielfalt der Angriffe und der Zusammenarbeit selber weiter stellen müssen, sonst bleiben sie hinter der aktuellen Politik zurück. Heute war kein Raum für andere Beiträge, die auch wichtig gewesen wären, wie der 5. Jahrestag der Explosion der „Deepwater Horizon“ oder der Jahrestag von Tschernobyl. Das wird nächste Woche kommen.

Jobst Roselius – siehe auch „Rote Fahne News

 

Gegen das Sterbenlassen
auf dem Mittelmeer!

Bei dieser Bremer Montagsdemonstration stand die Erschütterung, das Grauen vorn: Die unfassbare und leider doch absehbare Tragödie der Tötung mit Ansage! Am 19. April 2015 kam um 15:14 Uhr der Aufruf zur Trauerkundgebung von „No Lager“ und „Afrique-Europe-Interact“ über den Verteiler. Der bremische Innensenator hat dann am 20. April nachmittags folgende Presseerklärung abgegeben:

„Innensenator Ulrich Mäurer hat sich nach dem jüngsten Unglück mit befürchteten rund 900 ertrunkenen Flüchtlingen vor der libyschen Küste für eine Wiederauflage einer gezielten Seenotrettungsaktion auf dem Mittelmeer ausgesprochen und fordert Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) dringend auf, seine bisherige Haltung zu ändern. Italien hatte nach mehreren Flüchtlingstragödien mit mehreren Hundert Toten im Oktober 2013 für ein Jahr die Marineoperation ‚Mare Nostrum‘ ins Leben gerufen und in diesem Zeitraum weit über 100.000 Menschen gerettet. Fehlende finanzielle Unterstützung seitens der EU für das monatlich circa neun Millionen Euro teure Programm hat Italien dazu bewogen, das Programm einzustellen. Die EU hat daraufhin lediglich ein von den Aufgaben nicht vergleichbares Programm ‚Frontex Plus‘ aufgelegt.

Kritiker wie Bundesinnenminister de Maizière lehnen eine Wiederauflage einer Marineoperation wie ‚Mare Nostrum‘ ab, da es einen weiteren Anreiz für Flüchtlinge biete, die gefahrvolle Fahrt übers Mittelmeer zu wagen und damit kriminellen Schleuserbanden in die Hände spiele. Mäurer hält dagegen: ‚Es ist die schiere Verzweiflung, die Menschen antreibt, alles hinter sich zu lassen und sich auf den gefahrvollen Weg nach Europa zu machen. Dieser Verzweiflung dürfen wir nicht Abschreckung entgegensetzen.‘ Zu einer humanitären Flüchtlingspolitik gehörten die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Heimatländern, eine maritime Rettungstruppe auf dem Mittelmeer sowie legale Möglichkeiten zur Einwanderung nach Europa, so Mäurer.“

Hans-Dieter BinderEr hat das Problem verstanden. Die Lösungsmöglichkeiten sind altbekannt. Diese Presseerklärung wurde von den Veranstaltern vor dem Dienstsitz vom Innensenator verlesen und gelobt, aber es wurden die entsprechenden Taten eingefordert. Ein „Reisebericht“ über die Flucht per Schiff war ergreifend. Es wurden auch der Weg der Flüchtlinge nach der Landung per Schiff in der EU geschildert, die Rahmenbedingungen für den Asylantrag angerissen und das System der Aufteilung der Flüchtlinge kritisiert. Die Menschen haben keine Wahl: Sie werden zugewiesen und müssen dort bleiben. Die Demonstration oder der Trauermarsch verlief friedlich. Die Polizei hielt sich im Hintergrund. Eine Presseerklärung hat sie nicht veröffentlicht. Die Veranstalter planen weitere Aktionen.

Radio Bremen“ hat über die Tragödie berichtet. In der Ankündigung für den Bericht steht: „Die italienische Marineoperation „Mare Nostrum“ wurde von der Europäischen Union aus Geldmangel nicht weiter unterstützt und im Oktober 2014 eingestellt.“ Auf dem Trauerzug wurden die Aufwendungen für „Mare Nostrum“ und den nächsten G7-Gipfel ins Verhältnis gesetzt: Er kostet wesentlich mehr als ein Jahr „Mare Nostrum“! Bei einem Gespräch mit Rainer Kahrs von „Radio Bremen“ im Bremer Theater hat Selmin Caliskan, Generalsekretärin von „Amnesty International“, Taten gefordert, weil Worte nicht reichen, und an bisherige Vorschläge erinnert.

Die zuständigen Politiker benutzen „Fron­tex“ zur Abschottung der EU-Au­ßen­gren­zen, nachzulesen unter der 434., 444. und 471. Bremer Mon­tags­de­monst­ra­tion. Die Seeleute von „Frontex“ haben die griechischen Grenzer angelernt, wie Schlauchboote zerstört, Proviant beschlagnahmt und die so Geschwächten zurück aufs Meer gejagt werden. Die Seeleute von „Frontex“ mussten erst per Dienstanweisung zur Seenotrettung verpflichtet werden. Ob es geholfen hat? Wie so eine Flucht abläuft, wurde von „Phönix“ in „Tod vor Lampedusa“ geschildert, siehe 498. Bremer Mon­tags­de­monst­ra­tion. Die Menschen sind bereits auf dem Landweg lange unterwegs. Zum Teil vergehen mehrere Jahre, bis sie das Mittelmeer sehen. Der Bericht ist sehr detailliert und daher erschreckend. Die EU finanziert allen Nachbarstaaten die Abschottung der Außengrenzen zur EU. In Libyen sind die Reporter auf ein Gefängnis aufmerksam gemacht worden. Die Inhaftierten wollten nach Europa. Sie wurden erwischt und eingesperrt, zusätzlich schlecht versorgt und misshandelt. In Libyen herrscht halt Chaos!

In der Ukraine werden nicht nur Menschen, die in die EU wollen, inhaftiert. „Report Mainz“ hat ermittelt: „Seit Jahren werden regelmäßig Flüchtlinge vom EU-Hoheitsgebiet – etwa aus Ungarn oder der Slowakei – ohne Chance auf ein Asylverfahren in die Ukraine zurückgeschoben. Das bestätigte ein Experte des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR im Interview mit dem ARD-Magazin ‚Report Mainz‘ und dem Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘. Demnach werden die zurückgeschobenen Flüchtlinge in der Ukraine dann bis zu einem Jahr lang inhaftiert – in speziellen Haftanstalten, die von der EU mitfinanziert werden. Zurzeit befinde sich eine weitere solche Haftanstalt für Migranten im ukrainischen Martiniwske kurz vor der Eröffnung.“

Die Gefängnisse, das Personal und die Versorgung der Flüchtlinge werden von der EU bezahlt. Nach Ablauf der Verweildauer von circa einem Jahr in diesen Gefängnissen schiebt die Ukraine die Menschen ab. Wohin? Nicht in die EU! Solche Gefängnisse werden von „Frontex“ für alle Nachbarstaaten der EU geplant. Die Staaten erhalten alle Ausgaben ersetzt und obendrauf noch zusätzliche Vergütungen, also eine Belohnung! „Frontex“ ist eine Dienststelle der EU, das heißt der Haushalt von „Frontex“ muss durch die EU-Gremien. Keiner hat es gemerkt? Das glaube ich nicht! Die Abschottung und die unterlassene Hilfe sind politisch gewollt, die erfindungsreiche Umsetzung durch „Frontex“ ebenfalls.

Die Überwachung des Mittelmeers aus dem Weltraum erfolgt bereits seit Jahren und wird laufend verbessert. Es passieren auch Pannen. So fuhr ein „Frontex“-Schiff in unmittelbarer Nähe eines gekenterten Schiffs unbeirrt weiter. Die Begegnung wurde angezeigt. Die Prüfung ergab, der Vorfall könne nicht geklärt werden. Die Satellitenbilder seien nicht mehr vorhanden, auch nicht auf der Datensicherung. Kommentar des Kommandanten: „Pannen passieren“. Das Verhalten der „Frontex“-Matrosen blieb ohne Folgen für sie. Das Flugblatt der Veranstalter zitiert „Frontex“-Chef Gil Arias, der vor einigen Monaten unumwunden eingeräumt hat: „Wir sind keine Agentur, die sich mit der Lebensrettung auf hoher See befasst!“

In Deutschland sind manche Menschen etwas „reserviert“ gegenüber Fremden. An Laternen, insbesondere in Bayern klebte die Forderung „Maut für Ausländer“. Sie wird jetzt tatsächlich eingeführt. „Wer betrügt, der fliegt“, lautete ein Wunsch der CSU. Die Wirklichkeit wird von der „Welt“ hinterfragt und zeigt das Absurde, ganz ohne die Vorgänge rund um den Bayerischen Landtag. Die ARD hat ebenfalls nachgeschaut und aufgrund der gefundenen Fakten festgestellt: „Ausbeutung von Zuwanderern – wer betrügt, profitiert“.

Nun eine Bitte zwischendurch: Sehen und hören Sie sich die verantwortlichen Politiker genau an! Was sagen sie heute? Was haben sie gestern gesagt? Was haben sie getan oder unterlassen? Wie es sich anfühlt, vor dem Krieg wegzulaufen, haben auch Deutsche auf ihrer Flucht vor der Roten Armee erfahren. Mir wurde auch erzählt, wie es ist, im Bunker zu sitzen und die Einschläge zu hören. Es war grauenhaft! Wollen wir wirklich diese Abschottung? Ich nicht! Sie geschieht nicht in meinem Namen! Politiker, seid ihr sicher, dass dies der Wille der Menschen in Europa ist? Die Wähler werden euch bei der nächsten Wahl wegkreuzen!

Doch wie fühlen sich die Flüchtlinge im Alltag in Deutschland? Sie langweilen sich. Wenn Kontrollen erfolgen, werden garantiert die Menschen mit Migrationshintergrund kontrolliert, egal ob der Fahrschein oder die Personalpapiere geprüft werden. Die Polizei bestreitet dies. Trotzdem ist es meine Erfahrung, auch das Vorurteil, dass schwarze Afrikaner mit Drogen handeln. Seit dem 2. Januar 2015 wurde nun die Residenzpflicht für Asylbewerber überwiegend aufgehoben. Die Polizeikontrollen nach Hautfarbe müssten sich dadurch erübrigen. Ohne Anlass darf die Polizei nur in Ausnahmefällen Kontrollen durchführen.

In Bremen hat dieses Vorurteil einem Menschen das Leben gekostet. Zu diesem Zeitpunkt war der Brechmitteleinsatz bereits strittig, später wurde er verboten. Der Brechmitteleinsatz sollte bereits im Vorfeld unterbleiben. Der damalige Innensenator wusste nach eigener Aussage nichts von dieser Richtlinie. Hat er damals bereits seine Weiterbildung zum Notar begonnen? In einem kurzen Video erklärt ein schwarzer Vater seinem Sohn: „Egal was ein Polizist von dir verlangt, tu es!“ Deprimierend. In dem Video war auch ein schwarzer Mensch stilvoll mit Binder und Anzug zu sehen. Er stand in einer geschmackvoll eingerichteten Stube. Er ist Abteilungsleiter in einem deutschen Unternehmen und machte ein ernstes, sorgenvolles Gesicht. Asylbewerber(inne)n ist das Arbeiten erst nach drei Monaten erlaubt, und auch dann haben Deutsche Vorrechte.

Privates hat in den Aufnahmelagern keine Chance. Die Verweildauer ist einfach zu lang, die Lager sind überfüllt. Bremen will die Flüchtlinge vorzeitig mit Wohnungen versorgen. Die Menschen sind glücklich, hier bei uns zu sein, alles andere wird sich finden. Sie sind optimistisch für die Zukunft. Doch je länger und eintöniger der Aufenthalt sich gestaltet, umso mehr kehrt die Verzweiflung zurück. Es folgen der Kampf um die Anerkennung der Ausbildung und Auseinandersetzungen mit dem Ausländeramt und vielen Vorschriften. Wir haben daher viele Menschen mit Diplom für einfachste Arbeiten. Was für eine Verschwendung von Möglichkeiten! Es ist eine weitere Diskriminierung dieser Menschen. Ich habe dieses Thema absichtlich breit angerissen, um aufzuzeigen: Es gibt viel zu tun! Mir fehlen die Worte. Darum Montagsdemo, Kopf zeigen: Ich will die Zukunft lebenswert gestalten!

Hans-Dieter Binder („Die Linke“)

 

Fähren statt Frontex!

Genug ist genug! Gegen das Sterbenlassen auf dem Mittelmeer! – In der Nacht von Samstag auf Sonntag sind nach jüngsten Schätzungen über 750 Bootsflüchtlinge 73 Seemeilen nördlich der libyschen Küste auf dem Weg nach Italien ertrunken. Sie waren an Bord eines 30 Meter langen Kutters, der kenterte, als sich das Frachtschiff King Jacob näherte, um Hilfe zu leisten. Es gibt nur wenige Überlebende.

Es ist die größte Flüchtlings-Schiffskatastrophe in der neueren Geschichte des Mittelmeers, nachdem bereits vier Tage vorher etwa 400 Flüchtlinge ums Leben gekommen waren. Sämtliche dieser Toten wären vermeidbar gewesen, denn es war eine gezielte Entscheidung der Europäischen Union, Ende 2014 das italienische Seenotreuungsprogramm „Mare Nostrum“ auslaufen zu lassen, obwohl „Mare Nostrum“ seit Oktober 2013 über 150.000 Menschen aus Seenot gerettet hat.

Genau dies wurde jedoch von europäischen Innenpolitiker(inne)n massiv kritisiert – allen voran vom deutschen Innenminister Thomas de Maizière. Nach ihrer Lesart seien so zusätzliche Flüchtlinge angezogen worden – eine mehr als zynische Lesart, die die vollkommen verzweifelte Lage vieler Flüchtlinge in Gänze ausblendet. Und doch: Ergebnis dieser innereuropäischen Auseinandersetzung war, dass „Mare Nostrum“ durch die Operation „Triton“ der europäischen Grenzschutzagentur „Frontex“ ersetzt wurde, die sich nur noch auf die Überwachung einer 30-Kilometer-Zone vor der europäischen Küste beschränkt und somit Flüchtlinge bewusst ertrinken lässt, wie „Frontex“-Chef Gil Arias bereits vor einigen Monaten unumwunden eingeräumt hat: „Wir sind keine Agentur, die sich mit der Lebensrettung auf hoher See befasst“.

Das Sterben auf dem Mittelmeer könnte bereits morgen Geschichte sein. Deshalb fordern wir die sofortige Einrichtung einer direkten Fährverbindung für Flüchtlinge aus Tripolis und anderen Orten Nordafrikas beziehungsweise der Türkei nach Europa, denn Flüchtlinge sind auf sichere und legale Wege angewiesen. Außerdem könnte so den viel kritisierten Schlepperbanden direkt die Geschäftsgrundlage entzogen werden.

Flugblatt von „No Lager“ und „Afrique-Europe-Interact

 

Für Niedriglohn schuften, unsere Produkte ins Ausland verschenken?

1. Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck beklagt, dass unsere Arbeitsverhältnisse immer häufiger zu Arbeitsunfähigkeit führen. Die Zahl der Menschen mit Burn-out-Syndrom explodiere, Stress sei die „größte Gefahr des 21. Jahrhunderts“. Das Arbeitsleben werde von einem generellen Kostensenkungswahn beherrscht. Alles dürfe nichts mehr kosten, weswegen Löhne gedrückt und gleichzeitig Arbeitszeiten ausgeweitet würden. Vor 15 Jahren habe immerhin noch die Regel gegolten, dass die Menschen für ihre Arbeit wenigstens vernünftig bezahlt werden müssten, doch inzwischen seien die unteren Einkommen völlig abgekoppelt von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Das führe bei einem Teil der Bevölkerung wahrscheinlich zu Druck, Existenzangst und Armut.

Elisabeth GrafWenn alle Menschen wieder ein vernünftiges Einkommen bezögen, komme dies einem ersten Schritt zu einer normalen Gesellschaft gleich. Nicht nur bei den Löhnen, sondern auch durch ein gerechteres Steuersystem müsste es von staatlicher Seite eine Umverteilung geben. In den letzten zwanzig Jahren seien nur die die Reichen begünstigt worden und die Armen „hinten runtergefallen“. Das müsse wieder umgedreht werden, weil eine Gesellschaft alle ihre Mitglieder mitnehmen müsse und nicht große Teile außen vorlassen und zu Arbeitssklaven abstempeln dürfe.

Auf die Frage, ob sich höhere Löhne als „Burn-out-Therapie“ eigneten, antwortete Flassbeck, wer einen höheren Stundenlohn bekomme, müsse nicht mehr drei oder vier Jobs annehmen oder zusätzlich am Wochenende arbeiten, um über die Runden zu kommen. Der gesetzliche Mindestlohn gehe zwar in die richtige Richtung, sei aber nicht hoch genug. Deutschland liege mit 8,50 Euro Stundenlohn im europäischen Vergleich am unteren Ende. Er fordert, dass die unteren Einkommen am Produktivitätsfortschritt beteiligt werden. Durch die Hartz-Gesetze hätten sich die Gewerkschaften zu sehr in die Ecke drängen lassen.

Für den, der arbeitslos wird, sei Hartz IV praktisch der programmierte Abstieg in den unteren Einkommensbereich. Dies sei der Todesstoß für die Bereitschaft vieler Leute gewesen, sich noch kämpferisch und engagiert in einer Gewerkschaft einzubringen. Anfangs hätten die Gewerkschaften gegen die von Rot-Grün beschlossenen Arbeitsmarktreformen noch Widerstand geleistet, sich aber inzwischen offenbar mit den Verhältnissen arrangiert. Ich kann gut nachvollziehen, dass der Wirtschaftswissenschaftler es vollkommen lächerlich findet, wenn die Gewerkschaften über Tariferhöhungen von zwei Prozent jubeln können. Flassbeck prangert an, dass wir hier auf Kosten unserer Gesundheit wie die Verrückten arbeiten würden, durch die Niedriglöhne hierzulande überhaupt erst diesen Exportboom ermöglichen, um dann am Ende unsere Produkte im Ausland zu verschenken.

 

2. Seit letzter Woche ist es leider schon „in trockenen Tüchern“, dass Bremen die neue „Jugendberufsagentur“ im Mai an den Start gehen lässt, um Unterfünfundzwanzigjährigen in Ausbildung und Job zu helfen. Laut Sozialsenatorin Anja Stahmann müssten die Jugendlichen ermuntert werden, „auch wenn sie nicht sofort nach dem Verlassen der Schule eine Ausbildung anfangen können oder wollen – selbst dann, wenn sie von sich aus nicht auf die Idee kommen, sich Unterstützung im Hilfesystem zu besorgen“. Weil dieses Ansinnen den Anschein von mindestens „sanftem Druck“ mache und für Politiker(innen) der Linkspartei auch deswegen „Mist“ sei, schütteten diese aus Protest einen ebensolchen Haufen vor dem Rathaus aus.

Landessprecherin Doris Achelwilm kritisierte, dass „Jugendberufsagenturen“ von den Sanktionsmechanismen der Hartz-Gesetze nicht zu trennen seien und hier wie beim Jobcenter mit Druck gearbeitet werde. Sie habe auch datenschutzrechtliche Bedenken, weil Daten zwischen Schulen und den „Jugendberufsagenturen“ ausgetauscht werden sollten. Ja, da kann einer wirklich angst und bange werden, wenn offenbar lückenlos so viele Jugendliche wie möglich bei der „Jugendberufsagentur“ registriert werden sollen, um sie nach der Schulpflicht nicht aus den Augen zu verlieren!

Dass sie dafür das Einverständnis der Jugendlichen brauchen, ist ja wohl nur ein trauriger Witz und vermutlich ebenso freiwillig wie die „Angebote“ und „Einladungen“ an Langzeiterwerbslose, die bei Nichtannahme halt so ein ganz kleines bisschen sanktioniert werden. Erschreckend finde ich, dass die Senatorin für Bildung und Wissenschaft eine Ermächtigung anstrebt, Daten auch von ehemaligen Schülerinnen und Schülern bis zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres zu Zwecken der Förderung der beruflichen Ausbildung zu verarbeiten.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass die „Jugendberufsagentur“ beratend tätig wird und besser als die Jugendlichen und ihre Familien weiß, wie und wo diese in Zukunft entweder eine Ausbildung in den Bereichen machen sollen, die von der Wirtschaft aktuell gefragt sind, oder gleich in sehr günstig entlohnte Jobs gesteckt werden! Natürlich soll die Vernetzung der Institutionen und Ressorts nur dafür sorgen, dass die Jugendlichen effektive Hilfe bekommen und das Übergangssystem als sinnlose Warteschleife abgebaut wird. Wenn diese „freiwilligen“ schriftlichen und telefonischen Beratungsangebote von den jungen Männern und Frauen nicht entsprechend wahrgenommen werden, dann würden sie persönlich aufgesucht. Selbstredend sollen diese „Hausbesuche“ so freiwillig und nur im Sinne der Delinquenten sein wie die gesamte Verfolgungsbetreuung sonst auch.

 

3. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 1.001.103 Sanktionen gegen Hartz IV-Bezieher verhängt. Laut eines Berichts des Blattes mit den vier Großbuchstaben, der sich auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit beruft, seien meist Meldeversäumnisse Grund der Leistungskürzungen. Allein 747.793 Sanktionen, die etwa drei Viertel aller im vergangenen Jahr verhängten Strafen entsprechen, seien wegen versäumter Termine beim Jobcenter oder dem ärztlichen und psychologischen Dienst ausgesprochen worden.

118.614 Sanktionen seien gegen Leistungsbezieher verhängt worden, die sich weigerten, eine Arbeitsstelle beziehungsweise eine Aus- oder Fortbildung anzutreten oder diese wieder abbrachen. Bei Verstößen gegen die Eingliederungsvereinbarung wurden im vergangenen Jahr 103.967 Sanktionen verhängt. Während wenigstens die Linkspartei regelmäßig Kritik an der menschenunwürdigen Sanktionspraxis der Jobcenter übt, scheint der Wirtschaftsflügel der CDU nur wenig Verständnis für Menschen in finanziellen Notlagen aufzubringen und „warnt“ vor einer Abmilderung der Strafen.

Die Sanktionen hätten im Schnitt 107 Euro monatlich betragen, bei den Unterfünfundzwanzigjährigen sogar 124 Euro. Ich empfinde es als Überheblichkeit und völlige Verkennung der Situation von Erwerbslosen, wenn ihnen vorgeworfen wird, sie hätten sich in ihrer Lebenslage mit den Sozialleistungen „eingerichtet“. Mit nur 399 Euro zum „Leben“ lässt sich keine Teilhabe an der Gesellschaft einrichten, kein Leben, kein Miteinander, noch nicht mal die Stromrechnung bezahlen. Wie christlich kann eine Partei sein, die verlangt, dass wegen fragwürdiger Ordnungswidrigkeiten das ohnehin viel zu knapp „bemessene“ Existenzminimum unterschritten werden darf, ja angeblich sogar muss?!

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
Die „Tages-Schau“ ist zu schwer: Wann bekommen wir endlich in „leichter Spracheerklärt, wie wunderbar unsere Kanzlerin für uns sorgt? („Focus“)
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz