Dokumentation
Die Neuwahl-Entscheidung der
Verfassungsrichter
Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg für
vorgezogene Bundestagswahlen freigemacht. Das Urteil liegt für die
Öffentlichkeit noch nicht in schriftlicher Firm vor. SPIEGEL ONLINE dokumentiert
die wichtigsten Passagen aus der zwölfseitigen Pressemitteilung des
Gerichts.
Karlsruhe - "Ob der Kanzler über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit
verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den
parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben, dass der
Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt, wie sich das Verhältnis des
Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt.
(...)
Gemessen am Sinn des Art. 68 GG ist es nicht zweckwidrig, wenn ein
Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen,
bereits eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt. Denn die
Handlungsfähigkeit geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung
offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen
Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu
verfolgen. (...)
Die Einschätzung des Bundeskanzlers, er sei für seine
künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die
durch das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und nicht
vollständig überprüft werden kann und ohne Beschädigung des politischen
Handlungssystems auch nicht den üblichen prozessualen Erkenntnismitteln
zugänglich ist. (...)
Das Grundgesetz hat die Entscheidung über die
Auflösung des Bundestages nicht einem Verfassungsorgan allein in die Hand
gegeben, sondern sie auf drei Verfassungsorgane verteilt und diesen dabei
jeweils eigene Verantwortungsbereiche zugewiesen. Die drei Verfassungsorgane -
der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident - haben es
jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu
verhindern. (...)
Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten
sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein zweckwidriger Gebrauch der
Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer
vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lässt sich nicht feststellen. Der Einschätzung
des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im
Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene
Politik mehr verfolgen, ist keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen.
(...)
Der Bundeskanzler hat Tatsachen benannt, die für seine Einschätzung
der politischen Kräfteverhältnisse im Deutschen Bundestag sprechen. (...) Der
hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik an seiner
Politik der "Agenda 2010" und den seit 2003 für die SPD ganz überwiegend
verloren gegangenen Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugängliche
Tatsachen. Diese Sicht des Bundeskanzlers wird vom Partei- und
Fraktionsvorsitzenden der SPD ausdrücklich geteilt. (...)
Die
Einschätzung des Bundeskanzlers, es habe ihm der Verlust der politischen
Handlungsfähigkeit gedroht, wird auch nicht dadurch widerlegt, dass der
Fraktionsvorsitzende Müntefering bei der Aussprache zur Vertrauensfrage des
Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 davon gesprochen hat, dass der Kanzler das
Vertrauen der SPD-Fraktion besitze. Diese Äußerung fiel im Zusammenhang mit der
Feststellung, dass die Fraktion den Bundeskanzler weiter als Bundeskanzler haben
wolle; sie bezog sich ersichtlich allein auf die insoweit unumstrittene Person
des Kanzlers und hatte nicht den Sinn, vorausgegangene, die Einschätzung des
Bundeskanzlers bestätigende Äußerungen zurückzunehmen. (...)
Zum
Sondervotum des Richters Hans Joachim Jentsch:
Nach Überzeugung des
Richters Jentsch hätte den Anträgen stattgegeben werden müssen. Den vom
Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lässt sich seine politische
Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen
(1.). Zudem kennt das Grundgesetz kein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers
gegenüber dem Parlament (2.). Schließlich schwächt die Auffassung der
Senatsmehrheit die Stellung des Deutschen Bundestages (3.). (...)
Zum
Sondervotum der Richterin Gertrude Lübbe-Wolff:
Die Richterin Lübbe-Wolff
stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu, wendet sich aber gegen die zugrunde
gelegte Auslegung des Art. 68 GG, mit der das Gericht eine bloße Kontrollfassade
aufgebaut habe. (...)
Mit der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht
dem Art. 68 GG zuschreibt, seien daher bloße Inszenierungen fehlender
Verlässlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen. Die
Auslegung, nach Art. 68 GG genüge es nicht, dass der Antrag des Bundeskanzlers
keine Kanzlermehrheit finde, drohe im Gegenteil solche Inszenierungen gerade
hervorzurufen und erzeuge systematisch jedenfalls den Eindruck
verfassungswidriger Inszenierung. Den Stabilitätsinteressen, auf die das Gericht
sich für diese Auslegung berufe, sei das abträglicher als jede vorgezogene
Neuwahl.
Das Recht befördere nicht gute Ordnung, sondern Simulation oder
sogar die Herbeiführung gerade dessen, was vermieden werden soll, wenn es
Forderungen aufstelle, gegen deren Umgehung oder scheinhafte oder
herbeiinszenierte Erfüllung es nichts aufzubieten habe."
(AZ: 2 BvE 4/05
und 2 BvE 7/05 - Urteil vom 25. August 2005)
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