SPIEGEL ONLINE - 25. August 2005, 16:39
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Dokumentation
 
Die Neuwahl-Entscheidung der Verfassungsrichter

Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg für vorgezogene Bundestagswahlen freigemacht. Das Urteil liegt für die Öffentlichkeit noch nicht in schriftlicher Firm vor. SPIEGEL ONLINE dokumentiert die wichtigsten Passagen aus der zwölfseitigen Pressemitteilung des Gerichts.

Karlsruhe - "Ob der Kanzler über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt. (...)

Gemessen am Sinn des Art. 68 GG ist es nicht zweckwidrig, wenn ein Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen Abstimmungen drohen, bereits eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage stellt. Denn die Handlungsfähigkeit geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen. (...)

Die Einschätzung des Bundeskanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die durch das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und nicht vollständig überprüft werden kann und ohne Beschädigung des politischen Handlungssystems auch nicht den üblichen prozessualen Erkenntnismitteln zugänglich ist. (...)

Das Grundgesetz hat die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages nicht einem Verfassungsorgan allein in die Hand gegeben, sondern sie auf drei Verfassungsorgane verteilt und diesen dabei jeweils eigene Verantwortungsbereiche zugewiesen. Die drei Verfassungsorgane - der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident - haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. (...)

Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein zweckwidriger Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lässt sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, ist keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen. (...)

Der Bundeskanzler hat Tatsachen benannt, die für seine Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse im Deutschen Bundestag sprechen. (...) Der hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik an seiner Politik der "Agenda 2010" und den seit 2003 für die SPD ganz überwiegend verloren gegangenen Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugängliche Tatsachen. Diese Sicht des Bundeskanzlers wird vom Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD ausdrücklich geteilt. (...)

Die Einschätzung des Bundeskanzlers, es habe ihm der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit gedroht, wird auch nicht dadurch widerlegt, dass der Fraktionsvorsitzende Müntefering bei der Aussprache zur Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 davon gesprochen hat, dass der Kanzler das Vertrauen der SPD-Fraktion besitze. Diese Äußerung fiel im Zusammenhang mit der Feststellung, dass die Fraktion den Bundeskanzler weiter als Bundeskanzler haben wolle; sie bezog sich ersichtlich allein auf die insoweit unumstrittene Person des Kanzlers und hatte nicht den Sinn, vorausgegangene, die Einschätzung des Bundeskanzlers bestätigende Äußerungen zurückzunehmen. (...)

Zum Sondervotum des Richters Hans Joachim Jentsch:

Nach Überzeugung des Richters Jentsch hätte den Anträgen stattgegeben werden müssen. Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lässt sich seine politische Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen (1.). Zudem kennt das Grundgesetz kein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers gegenüber dem Parlament (2.). Schließlich schwächt die Auffassung der Senatsmehrheit die Stellung des Deutschen Bundestages (3.). (...)

Zum Sondervotum der Richterin Gertrude Lübbe-Wolff:

Die Richterin Lübbe-Wolff stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu, wendet sich aber gegen die zugrunde gelegte Auslegung des Art. 68 GG, mit der das Gericht eine bloße Kontrollfassade aufgebaut habe. (...)

Mit der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht dem Art. 68 GG zuschreibt, seien daher bloße Inszenierungen fehlender Verlässlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen. Die Auslegung, nach Art. 68 GG genüge es nicht, dass der Antrag des Bundeskanzlers keine Kanzlermehrheit finde, drohe im Gegenteil solche Inszenierungen gerade hervorzurufen und erzeuge systematisch jedenfalls den Eindruck verfassungswidriger Inszenierung. Den Stabilitätsinteressen, auf die das Gericht sich für diese Auslegung berufe, sei das abträglicher als jede vorgezogene Neuwahl.

Das Recht befördere nicht gute Ordnung, sondern Simulation oder sogar die Herbeiführung gerade dessen, was vermieden werden soll, wenn es Forderungen aufstelle, gegen deren Umgehung oder scheinhafte oder herbeiinszenierte Erfüllung es nichts aufzubieten habe."


(AZ: 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05 - Urteil vom 25. August 2005)
 


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