Neuwahlen
Erheblicher Zündstoff
Von Dietmar Hipp
Das Verfassungsgericht verhandelt über die Auflösung des Bundestags. Das vom Kanzler vorgelegte Dossier dürfte Karlsruhe einiges Kopfzerbrechen bereiten.
Seit Jahren verbringt Bundesverfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch seinen Sommerurlaub im Hotel "Doktorwirt" in Salzburg. Stets gehört ein Besuch der dortigen Festspiele zu seinem Ferienprogramm. Die Urlaubslektüre indes bietet dem Juristen in diesem Jahr kaum Gelegenheit zur Entspannung: Es sind die mehrere hundert Seiten starken Klageschriften gegen die von Bundespräsident Horst Köhler verfügte Auflösung des Bundestags.
In Sonderschichten hatten Angestellte des Bundesverfassungsgerichts per Fax die Unterlagen versandt - nicht nur, wie sonst üblich, an die Verfahrensbeteiligten und die übrigen Bundesorgane, sondern auch an die urlaubenden Richter. Die Einsprüche gegen die Entscheidung Köhlers kamen von etlichen Kleinparteien, darunter von der Familien-Partei und den Republikanern, sowie von den Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD).
Am Dienstag öffentlich verhandeln werden Richter Jentsch und seine Kollegen vom Zweiten Senat aber nur die Organklagen der Parlamentarier. Diese sehen sich in ihren Rechten als Abgeordnete verletzt und den Staat in seinen Grundfesten erschüttert, nachdem Köhler dem Wunsch von Bundeskanzler Gerhard Schröder gefolgt war und Neuwahlen beschlossen hatte. Wenn das "gefühlte Misstrauen des Kanzlers" eine Parlamentsauflösung rechtfertige, argumentiert Kläger Schulz, wäre das "ein Stück Weimar in Berlin".
Bereits an diesem Montag werden sich die zwei Richterinnen und sechs Richter in Karlsruhe voraussichtlich zu einer ersten inhaltlichen Beratung treffen. Bis Anfang September könnten die Juristen ihr Urteil verkünden. Zwar erwarten selbst Kritiker von Köhlers Entscheidung kaum, dass der geplante Wahltermin am 18. September noch kippen wird - gesichert ist das aber nicht.
Gerade in jüngster Vergangenheit - etwa beim gescheiterten NPD-Verbotsverfahren - haben die Mitglieder des sogenannten Staatsrechts-Senats gezeigt, dass sie auch entgegen allgemeiner politischer Erwartung und Übereinkunft der übrigen Verfassungsorgane eigenständig entscheiden.
Schon die Verhandlungsgliederung, die das Gericht vergangene Woche verschickte, lässt vermuten, dass der Frankfurter Staatsrechtslehrer Joachim Wieland als Bevollmächtigter des Bundespräsidenten sowie der Berliner Star-Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink ("Der Vorleser") als Vertreter des Bundeskanzlers ein hartes Stück Arbeit vor sich haben.
Die Frage nach der Zulässigkeit "unechter" Vertrauensfragen dürfte die Richter zwar kaum lange beschäftigen: Ihre Vorvorgänger hatten schon 1983 festgestellt, dass die Väter des Grundgesetzes diese Möglichkeit in ihre Überlegungen "deutlich einbezogen" hätten. Schröders Vorgehen, gezielt einen Vertrauensentzug anzustreben, wäre damit legitimiert.
Erheblichen Zündstoff birgt indes der Umstand, dass die Richter zwei weitere Aspekte getrennt beraten wollen: zum einen die "Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume" des Kanzlers und des Präsidenten. Zum anderen geht es um die "materielle Auflösungslage", also um die Frage, ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Neuwahl erfüllt waren. Folglich werden sich weder Schröders noch Köhlers Vertreter kaum hinter subjektiven Einschätzungen verstecken können, sondern wohl gezwungen sein, Beweise für die angeblich unsichere Mehrheit im Bundestag vorzulegen.
Die scheinen bislang äußerst dürftig zu sein. Das auf 235 Seiten aufgeblähte, überwiegend aus Zeitungsartikeln bestehende Dossier, das der Kanzler für den Bundespräsidenten zusammenstellen ließ, dokumentiert vor allem altbekannte Kritik aus den Reihen von Rot-Grün an der Regierungspolitik.
Es enthält offenbar keinen einzigen belastbaren Beleg dafür, dass dem Kanzler unmittelbar vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen - oder auch danach - seine Drei-Stimmen-Mehrheit abhanden gekommen wäre. Und die Karlsruher Juristen könnten leicht zu dem Ergebnis kommen, dass auch eine knappe Mehrheit eben immer noch eine Mehrheit ist.
Richter Jentsch hatte bereits nach der Vertrauensfrage im Bundestag in einem Beitrag in der "Allgemeinen Zeitung Mainz" von einer "Bewährungsprobe" für die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung geschrieben und ungewöhnlich offen kritisiert, dass "dabei mehr auf den politischen Willen als auf das geltende Recht abgestellt werden soll".
Als Beleg dafür kann auch die Feststellung von SPD-Chef Franz Müntefering gelten, der unmittelbar vor der Vertrauensabstimmung im Bundestag am 1. Juli versicherte, Schröder genieße "das volle Vertrauen" seiner Fraktion.
Das Zeitungsdossier des Bundeskanzlers könnte sich nun als regelrechter Bumerang erweisen. Wenn bloße Meinungsäußerungen von Abgeordneten genügten, um den Bundestag aufzulösen, wendet Schulz' Bevollmächtigter Wolf-Rüdiger Schenke ein, gefährde das die Freiheit der einzelnen Abgeordneten und die innerparteiliche Demokratie. Das Dossier belege doch nur, so der Mannheimer Juraprofessor, "dass die SPD eine lebendige Volkspartei ist".
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