24.2.2009

Patienten leiden unter Sparkurs
AOK stellt auf günstigere Inkontinenz-Artikel um / Versicherte bemängeln Qualität Von Stefanie Bettinger
 

Bremen. Inkontinent und trotzdem uneingeschränkt den Alltag leben? Das ist heute eigentlich kein Problem mehr, kleine Helfer wie Einlage und Windel machen es möglich. Seit die AOK Bremen zu Jahresbeginn aber auf neue Produkte umgestiegen ist, regt sich offener Protest bei vielen Betroffenen. Sie monieren vor allem die mangelhafte Qualität der neuen Produkte, die nicht halten, was sie versprechen.

Auslöser der Diskussion ist eine Änderung des Bundessozialgesetzes für Hilfsmittel im April 2007. Diese sieht vor, dass die Krankenkassen die Belieferung mit Inkontinenzartikeln öffentlich ausschreiben und den günstigsten Anbieter nehmen müssen. Die AOK Bremen hat das im vergangenen Jahr zum ersten Mal gemacht. Der dadurch erhofften Kostenersparnis von mehreren Hunderttausend Euro jährlich stehen rund 4500 Versicherte in Bremen und Bremerhaven gegenüber, die jetzt mit den neuen Produkten und dem Service des neuen Anbieters zu kämpfen haben.

Vier Wochen hat beispielsweise eine Findorfferin auf ihre Einlagen gewartet. Ihren Namen will die 82-Jährige nicht nennen, um das bisher gute Verhältnis zur AOK nicht zu beeinträchtigen. Denn noch hofft sie auf eine Rückkehr zum alten System. "Die neuen Einlagen verrutschen ständig und saugen die Flüssigkeit schlechter auf als die alten", klagt sie. Die Rentnerin lebt noch in ihren eigenen vier Wänden, in denen sich jetzt riesige Kartons bis an die Decke stapeln. "Für ein Jahr im Voraus haben sie mir die Ware geliefert", erzählt sie. Eine Frechheit sei das, und ausgerechnet noch in einem so intimen Bereich.

Auch Sylvia Lorenz kennt diese Probleme. "Wir haben keine extremen Inkontinenz-Patienten, und trotzdem müssen wir nachts zwei- bis dreimal öfter Windeln wechseln", berichtet die Pflegedienstleiterin im Altenpflegeheim St. Laurentius. Jedes Mal dasselbe: wecken, wickeln und bei Bedarf auch das Bett neu beziehen. Da wird nicht nur die Intimsphäre gestört. "Unsere Bewohner sind nach solchen Nächten so gestresst, dass wir kaum noch mit ihnen arbeiten können", erzählt Lorenz. Gymnastik und Gedächtnistraining sind aber enorm wichtig für die Heimbewohner. Hinzu kommt der gestiegene Zeitaufwand, der den Pflegekräften bei anderen Aufgaben wie dem Verteilen von Getränken fehlt.

Das sei nichts weiter als eine klassische Blockadehaltung, hält Michael Stratmann von der AOK Bremen dagegen. "Früher haben die Heime für jeden Patienten einen bestimmten Geldbetrag bekommen und damit die Inkontinenz-Versorgung selbst organisiert", sagt der Abteilungsleiter für Hilfsmittel. Diesen Verlust wollten die Heime nicht akzeptieren, so Stratmann. Auch das Argument der mangelhaften Qualität will er nicht gelten lassen. "Unser Lieferant ist der größte Windelhersteller in Europa, und das Material ist für alle gleich auf dem Weltmarkt", betont er. Voraussetzung für das Ausschreibungsverfahren sei zudem gewesen, dass die Firma zu jedem bisher genutzten Artikel ein baugleiches Pendant liefern könne.

Da kann Sylivia Lorenz nur mit den Schultern zucken. Immer häufiger wurden die Klagen im St. Laurentius-Heim. Selbst Bewohner, die sich nicht mehr artikulieren können, gaben ihren Protest kund, indem sie die Windel wie einen nassen Sack aus dem Bett warfen. Die Pflegedienstleiterin wagte kurzerhand den Selbstversuch. Ein einziges Mal nur ließ sie den Gang zur Toilette aus. Das Ergebnis war ernüchternd. "Die Füllung klumpt bei der kleinsten Bewegung sofort zusammen, und die Haut bleibt feucht, weil die Saugfläche die Flüssigkeit nicht einschließt", erzählt sie nun aus eigener Erfahrung. Konsequenz: Die Haut wird wund. Und: "Gerade die Frauen trauen sich oft nicht mehr aus dem Zimmer, weil sie Angst haben vor Geruchsbildung und auslaufendem Urin", berichtet Michael Schmidt, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Wohlfahrtspflege (LAG). Von Mobilität im Alter könne da keine Rede mehr sein. In solchen Fällen spricht Michael Stratmann von falscher Anwendung,

räumt dennoch ein, dass beim Lieferanten im Zuge der Umstellung der eine oder andere Datenfehler aufgetreten sei. "Es ist aber auch klar, dass die neuen Hilfsmittel eine andere Farbkennung haben, die man in der Hektik der Eile schon mal verwechseln kann", sagt er und verspricht für die Zukunft mehr Produktschulungen. Er findet außerdem, dass manche Versicherten bisher überversorgt gewesen seien und jetzt mit dem Standard zurechtkommen müssten.

Für Martina kleine Bornhorst vom Caritasverband Bremen kommt das einer Beleidigung gleich. "Wir sind 24 Stunden am Bewohner dran und haben erfahrenes Pflegepersonal", sagt die Expertin der Altenpflege. Für sie ist es eine Tatsache, dass in der Praxis weniger Produkte zur Auswahl stünden und die Betroffenen im Alltag eingeschränkt seien. "Unterm Strich kostet die neue Regelung die Krankenkasse genauso viel wie die alte, weil wir statt einer teuren jetzt drei billige Windeln verbrauchen", argumentiert Martina kleine Bornhorst weiter. Im Vorfeld muss zudem mehr geliefert und hinterher mehr entsorgt werden. "Wo bleibt da die Ersparnis?", fragt auch Sylvia Lorenz, deren Keller schon aus allen Nähten platzt.

Kurioserweise hat die Bundesregierung die Gesetzesänderung mittlerweile zurückgenommen und aus der Ausschreibungspflicht eine freiwillige Angelegenheit gemacht. "Zu diesem Zeitpunkt liefen unsere Verhandlungen schon", sagt Michael Stratmann. Und der neue Vertrag ist auf zwei Jahre festgelegt. "Im Moment weiß keiner, ob wir danach das Recht haben, zum alten System zurückzukehren, weil es einen solchen Fall noch nicht gegeben hat", ergänzt er. Zudem habe die Regierung eine Studie in Auftrag gegeben, in der geprüft werden solle, in welchen Bereichen sich eine Ausschreibung lohne. "Wir müssen abwarten, wie sich das entwickelt." Stratmann gibt allen AOK-Versicherten die Garantie, mit dem neuen Lieferanten über Verbesserungen des Service-Angebots zu verhandeln.

© Bremer Tageszeitungen AG



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