6.8.2007

Kritische Lage oder Rekord?
Lehrstellenmarkt: Arbeitsagentur und Handelskammern widersprechen sich

Hans-Ulrich Brandt

BERLIN (DPA·DDP). Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt ist offenbar kritischer als von der Wirtschaft dargestellt. So waren Ende Juli - vier Wochen vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres - bei den Arbeitsagenturen bundesweit noch über 236 000 "unversorgte" junge Menschen registriert. Dies geht aus der jetzt veröffentlichten Berufsberatungsbilanz der Bundesagentur für Arbeit hervor. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und das Handwerk bezeichneten dagegen die Lage auf dem Lehrstellenmarkt als nahezu entspannt.
Ein Sprecher der Bundesagentur sagte dazu, die Lage sei zwar ein klein wenig besser als in den Vorjahren. Angebot und Nachfrage seien aber bei weitem noch nicht ausgeglichen. Je nach Wohnort und Berufswunsch hätten die Jugendlichen nach wie vor erhebliche Probleme bei der Lehrstellensuche. 82 500 Bewerber wünschen sich zwar vorrangig eine Lehrstelle, wären zur Not aber auch bereit, ab Oktober ein Studium oder eine andere Ausbildung aufzunehmen.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) rechnet dagegen mit einem Ausbildungsrekord in diesem Jahr. Die Entwicklung bei den Ausbildungsverträgen sei so gut wie seit 20 Jahren nicht mehr, sagte DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun der "Wirtschaftswoche": Man werde in diesem Jahr mit "insgesamt über 600 000 abgeschlossenen Verträgen einen neuen Rekord erzielen". Die Kammern rechneten damit, dass es Ende Dezember so viele Ausbildungsplätze wie Bewerber geben werde. "Ich bin zuversichtlich, dass die Lehrstellenlücke am Jahresende, nach den Nachvermittlungsaktionen, nahezu geschlossen sein wird", sagte Braun. Einer DIHK-Statistik zufolge haben allein die Industrie- und Handelskammern bis Ende Juli 231 406 neue Ausbildungsverträge gezählt und damit zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Auch die Handwerksfirmen verzeichnen wegen der guten Konjunktur einen Rekordzuwachs an Ausbildungsplätzen. Nach Angaben des Zentralverbands des Handwerk seien bis Ende Juli 10 201 Verträge mehr abgeschlossen worden als im Vorjahr zu diesem Zeitpunkt. Das sei ein Plus von 13,4 Prozent.
IG Metall-Vorstandsmitglied Regina Görner war dagegen skeptisch: "Die Totalentwarnung der Arbeitgeber auf dem Lehrstellenmarkt ist Unsinn." Zugleich verstehe sie angesichts der zu beobachtenden Ausbildungsverweigerung vieler Firmen die zunehmenden Klagen über fehlenden Fachkräftenachwuchs nicht. Arbeitgeberchef Dieter Hundt bezeichnete die Verbesserung "der oft mangelhaften Ausbildungsreife der Schulabgänger" als entscheidende Voraussetzung für zusätzliche Einstellungen.
Das neue Statistiksystem der Bundesagentur erlaubt erstmals einen differenzierten Blick auf die Lehrstellenvermittlung von Oktober 2006 bis Juli 2007. Ein direkter Vergleich der Zahlen der noch Unversorgten mit denen der Vorjahre ist wegen der Statistik-Umstellung jedoch nicht möglich.


Selektive Wahrnehmung
Lage auf dem Lehrstellenmarkt

Hans-Ulrich Brandt

Die einen rechnen mit einem "Ausbildungsplatzrekord" und beschreiben die Lage auf dem Lehrstellenmarkt als "nahezu entspannt". Die anderen widersprechen: Von einer "Totalentwarnung" könne nicht die Rede sein. Die Verwirrung ist komplett.
Hat es also mit selektiver Wahrnehmung zu tun, was der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sowie die Bundesagentur für Arbeit jetzt zu so unterschiedlichen Aussagen kommen lässt? Es scheint fast so, denn während DIHK-Präsident Braun für das Jahresende eine "nahezu geschlossene Lehrstellenlücke" verspricht, registriert die Bundesagentur derzeit noch über "236 000 unversorgte Bewerber" und registriert weiterhin "erhebliche" Probleme bei der Suche nach einer Lehrstelle.
Erklärungen für diese so widersprüchliche Sicht der Dinge mögen sich zwar partiell durch das neue Statistiksystem der Bundesagentur erklären lassen. Doch festzustellen ist auch: Schon immer haben Arbeitgeber und Arbeitsvermittler die Lage auf dem Lehrstellenmarkt sehr unterschiedlich beurteilt. Nicht zuletzt darunter litt die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen. Warum mehr tun, wenn doch alles in Ordnung ist? So lässt sich das Problem ganz sicher nicht lösen. Mögen auch die Zahlen je nach Erhebungsmethode variieren, es gilt nach wie vor: Viel zu viele Jugendliche bekommen keine Lehrstelle - Ausbildungspakt hin oder her.
Und über die Ursachen dafür wird ebenfalls gestritten. Sind sie alle zu schlecht qualifiziert? Fehlt ihnen die "Ausbildungsreife", wie Arbeitgeberchef Hundt zum Beispiel meint? Es wäre auch hier zu einfach, alles nur dem deutschen Schulsystem und damit den Kultusministern der Länder in die Schuhe zu schieben. Sicherlich, es gibt Defizite in der schulischen Qualifikation. Und die Zahl der Schulabbrecher ist immer noch viel zu hoch.
Aber die Gründe für das ganze Gejammere über den fehlenden Fachkräftenachwuchs sind eben auch ein Großteil hausgemacht. Zulange haben viele Firmen in Deutschland zu wenig ausgebildet. Zu lange auch haben Politiker über eine Bildungs- und Ausbildungsplatzoffensive nur geredet. Und eigentlich tun sie es immer noch, denn erst im Herbst will Bundesbildungsministerin Schavan ihre "Eckpunkte" dazu vorlegen. So wurde und wird wertvolle Zeit vertan.

© Bremer Tageszeitungen AG



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